„Viele Patienten fallen durch das Netz“
Dr. Georgia Schilling, leitende Oberärztin Onkologie mit Sektion Hämatologie an der Asklepios Klinik Altona, spricht im Interview über die Versorgung von Krebs-Langzeitüberlebenden, die langfristigen Folgen der Therapie und Herausforderungen in der Familie.
Dr. Georgia Schilling.Wie gut sind Ärzte und das Gesundheitssystem auf Krebs-Langzeitüberlebende eingestellt?
Mäßig bis schlecht. Viele Patienten fallen durch das Netz an der Schnittstelle Onkologe/Allgemeinmediziner. Beim Hausarzt geht auch viel Wissen über sinnvolle Untersuchungen in der Nachsorge verloren. Ebenso welche möglichen Langzeitnebenwirkungen oder Spätkomplikationen zu erwarten sind. Hinsichtlich Tertiärprävention – damit ist das Verhindern von Folge- und Begleiterkrankungen gemeint – gibt es in den Großstädten sicher gute Angebote, aber nicht flächendeckend. Das ist zum Beispiel kein Vergleich zu Koronarsportgruppen, die mittlerweile auf jedem Dorf zu finden sind.
Kann man sagen, ab wann ein Patient geheilt ist?
Nein, das kann man nicht pauschal sagen. Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Bei Darmkrebs treten die häufigsten Rückfälle beispielsweise in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Ersterkrankung auf, bei Brustkrebs gibt es eine signifikante Anzahl von Spätrezidiven, also das Wiederauftreten der Erkrankung auch noch nach vielen Jahren. Hinzu kommt das Risiko für die Entstehung von Zweittumoren, das bei ehemaligen Krebspatienten gegenüber der Normalbevölkerung erhöht ist und natürlich kann es zu Spätkomplikationen und Langzeiteffekten kommen.
Mit welchen langfristigen Folgen kämpfen Patienten, die eine Krebstherapie überstanden haben?
Auch das ist sehr unterschiedlich und sowohl individuell vom Patienten abhängig als auch von der Art der Tumorerkrankung und der Therapie beziehungsweise den verschiedenen Therapiemodalitäten in ihrer Kombination. Der häufigste und belastendste Langzeiteffekt ist Fatigue – auch Erschöpfungssyndrom genannt. Das wird viel zu wenig vom sozialen Umfeld und uns Ärzten wahrgenommen. Daneben gibt es eine Reihe von kardiovaskulären Spätkomplikationen oder kognitiven Einschränkungen sowie polyneuropathischen Beschwerden (Erkrankungen des peripheren Nervensystems, Anm. d. Red.), die den Alltag der „ehemaligen“ Patienten sehr einschränken können. Nicht zu vergessen gibt es neben diesen körperlichen Beschwerden auch eine Reihe psychosozialer Symptome und Belastungen, mit denen die Patienten, aber auch ihre Angehörigen kämpfen müssen. Das können Ängste oder Rezidivangst sein, aber auch negativer Stress oder eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit, die zu erschwerter Rückkehr ins Berufsleben führt.
Werden tumorfreie Patienten, die Angst vor einem Wiederauftreten eines Tumors haben, psychoonkologisch weiter betreut?
Ja, in der Regel werden diese Patienten in psychoedukativen Gruppen betreut. Dort wird versucht, medizinische Fakten so zu übersetzen, dass sie von den Patienten und ihren Angehörigen verstanden werden. Diese Angebote werden beispielsweise an manchen Institutsambulanzen oder auch bei niedergelassenen Psychotherapeuten gemacht.
Wie verändern sich die Beziehungen zu Familie und Freunden durch die Krebserkrankung? Welche Herausforderungen gibt es hier?
Wir vermuten, dass das soziale Umfeld ehemaliger Krebspatienten in gleichem Maße belastet ist wie die Patienten selbst. Es gibt aber noch keine weitreichenden Daten dazu. In Altona wollen wir deshalb diese Daten im kommenden Jahr erheben und auswerten.
Welche Risiken haben Menschen, die als Kinder und Jugendliche Krebs hatten?
Sie haben ein erhöhtes Zweitkrebserkrankungsrisiko und natürlich alle oben genannten Komplikationen und Spätfolgen. Der Alterungsprozess mit all seinen Begleiterscheinungen und Nebenerkrankungen setzt ebenfalls früher ein als in der Normalbevölkerung.
Gibt es Anlaufstellen für Krebsüberlebende?
Immer mehr – glücklicherweise zum Beispiel in Hamburg am Universitären Tumorzentrum und auch bei uns in Altona im Asklepios Tumorzentrum Hamburg. Die Universität Köln hat ein Programm und es entsteht gerade ein Netzwerk für Jugendliche und junge Erwachsene, an dem sich eine Reihe von Unikliniken beteiligen. Die Beratungsstellen der Landeskrebsgesellschaften, die in allen Bundesländern existieren, sind ebenfalls gute Anlaufstellen.