„Ein wichtiges Fenster zur Welt“

Birgit Bauer ist Expertin für Social Media und Digital Health und an Multiple Sklerose (MS) erkrankt. Sie führt seit 1997 einen eigenen Blog über ihr Leben mit MS: https://leben-arbeiten-mit-multiple-sklerose.blogspot.com. Im Interview erklärt sie, welche Potenziale soziale Netzwerke für Patienten bereithalten, welche Gefahren lauern und wie sich die einzelnen Communities unterscheiden.

Lebt mit MS: Birgit Bauer.Frau Bauer, wo fängt man in den sozialen Netzwerken an, wenn man bisher keine Erfahrungen damit gesammelt hat?

Wichtig ist immer, sich über alle einzelnen Netzwerke zu informieren, also nicht gleich Konten anzulegen und allem zuzustimmen. Ich glaube, man kann nie sagen, welches für wen am besten geeignet ist. Das ist eine ganz individuelle Entscheidung. Will man beginnen, hilft es, wenn es im Bekannten- oder Freundeskreis Leute gibt, die schon aktiv sind. Bei ihnen kann man sich nach Erfahrungen erkundigen und das macht die Entscheidung für oder gegen ein soziales Netzwerk neben der Sachinformation schon einfacher. Zudem hat man erste Kontaktpersonen, die helfen, erste Schritte zu machen und zu lernen. Jedes soziale Netzwerk hat eine Suchfunktion und darüber kann ich nach meiner Krankheit schauen. Da muss man sich durcharbeiten und das ist Arbeit.

Wie unterscheiden sich Twitter, Facebook und Co.?

Jedes soziale Netzwerk hat seine Eigenheiten. Twitter ist sehr schnell und am Anfang nicht immer übersichtlich. Zudem ist die Zeichenzahl limitiert und nicht jeder kommt sofort klar. Das höre ich oft von Menschen, die gerade anfangen. Wenn man sich mit dem Gedanken befasst, einer Facebook-Gruppe beizutreten, muss man sich im Klaren darüber sein, dass dort offen und sehr klar gesprochen wird. Das heißt, dass man Kritik oder einen schärferen Ton abkriegen kann. Gerade in geschlossenen Gruppen ist das der Fall. Man ist quasi unter sich. Diese Offenheit schockt erst einmal viele oder macht betroffen. Daher finde ich es wichtig, gerade wenn man sich mit Erkrankungen befassen möchte, langsam an die Sache heranzugehen, sonst kann es passieren, dass man sich schwertut, alles richtig zu sortieren. In den Business Networks wie LinkedIn oder Xing gibt es auch viele Fachgruppen, in denen man sich etwas sachlicher unterhält. Hier geht es mehr um Fakten oder Sachinformationen. Auf Instagram ist der Ton freundlich, man berichtet oder erzählt und zeigt Dinge. Patienten agieren hier offen und erzählen in Bildform von ihren Erlebnissen. Auch Pinterest dient vielen Menschen zum Sammeln von Informationen über ihre Erkrankungen. Dort gibt es oft Infografiken, die nicht uninteressant sind, aber auch Blogs werden dort mit Bildern und Links beworben.

Was kann bei der Auswahl des richtigen Netzwerkes helfen?

Sorgfältig mit sich selbst zu sein und zu wissen, was man möchte. Vielleicht den schnellen Twitter-Account, mit dem man per Suchfunktion Informationen finden kann, ohne dass man anderen Accounts offen folgt. Viele deutsche und ausländische Kongresse verwenden in Sachen Erkrankungen Hashtags – also das Rautesymbol # – sodass man gute Informationen schnell finden kann. Besonders häufig wird der Hashtag auf Twitter oder Instagram genutzt. Ebenso kann man mit Hashtags an so genannten Tweetchats teilnehmen und so in Echtzeit mit anderen diskutieren. Auf Facebook ist die Sache anders, der Hashtag wird dort eher weniger genutzt. Via Suchfunktion kann man Gruppen oder Fanpages finden, die einen persönlichen Austausch ermöglichen. Nutzt man den Hashtag, sollte man mit der Suchfunktion arbeiten, um zu sehen, welche Begriffe am häufigsten genutzt werden. Oft haben Erkrankungen zwei Bezeichnungen: eine die der Volksmund kennt, aber auch die Fachbezeichnung. Daher ist es sinnvoll, beide Bezeichnungen anzusehen.

Welche Vorteile haben soziale Netzwerke für Patienten?

Man kann in den Communities wie z. B. einer Facebook-Gruppe anfragen, wenn man mal schnell eine Auskunft braucht: Patienten beschreiben dort ihre Symptome und möchten erfahren, ob jemand etwas dazu weiß. Das ist auch gut, um sich mit anderen Menschen zu vernetzen und Freunde zu finden. Gerade wenn wir immobile Patienten betrachten, die nicht mehr so viel rausgehen können und deren Freunde vielleicht ein paar hundert Kilometer entfernt sind: Für sie sind das Internet und die sozialen Netzwerke ein wichtiges Fenster zur Welt. Auf der anderen Seite ist da auch ein kleiner Bildungsauftrag, durch die Vernetzung lernen wir von anderen, wie etwa bei Tweetchats: Ein Team stellt offen Fragen auf Twitter, die die öffentliche Diskussion zulassen. Ich bin eine Verfechterin von Tweetchats, weil ich da Meinungen aus verschiedenen Ländern finden und von anderen Menschen lernen kann.

Also würden Sie soziale Netzwerke für Patienten empfehlen?

Man kann einem Menschen, der krank ist, nicht pauschal empfehlen, mal auf Twitter oder Facebook zu gehen. Wenn man soziale Netzwerke nutzen will, muss man eines mitbringen und das ist Medienkompetenz. Es geht darum, einen bewussten Umgang mit Informationen zu lernen und das ist für Menschen mit Erkrankungen auch nicht immer einfach. Deswegen würde ich keine pauschale Empfehlung dafür oder dagegen aussprechen, das muss jeder für sich selber entscheiden. Es muss auch jedem klar sein: Wenn er in die sozialen Netzwerke geht, trifft er ab und an auch mal auf Fake News, veraltete Informationen oder Menschen, die etwas vorspielen. Hier pauschal zu sagen, Social Networks sind toll, geht nicht. Man muss bewusst damit umgehen und sich regelmäßig damit befassen, aber auch Auszeiten nehmen, wenn es zu viel wird. Für mich gehört das zu meinen täglichen Routinen und dem Informationsfluss dazu, aber es ist auch mein Job – mein Mehrwert ist ein Gesamtpaket.

Wenn man als Patient auf sozialen Netzwerken unterwegs ist, gibt man der Öffentlichkeit Informationen von sich preis. Das könnte zum Nachteil einiger Erkrankter werden.

Prinzipiell ist es die Vernetzung, um die es sich bei Social Media und in den sozialen Netzwerken dreht, also der Austausch von Informationen ist wichtig. Es ist ein stetiges Geben und ein Nehmen. Man kann schon für eine Weile still konsumieren, aber man sollte irgendwann auch anfangen zu interagieren, also auch mal etwas mit „Gefällt mir“ zu honorieren oder zu teilen oder selbst Informationen zu posten. Das ist das Prinzip von Social Media und andere sind ja auch froh, wenn sie Neuigkeiten bekommen. Menschen mit Erkrankungen können das durchaus als Bereicherung nutzen, wenn sie es richtig nutzen. Ich finde, diese Menschen haben oft zu wenig Informationen – die sie aber benötigen, um einen Arzt anzusprechen oder Entscheidungen zu treffen. Es passiert mir oft, dass ich über mein Blog oder auch meine Fanpage von Menschen mit MS etwas gefragt werde, weil sie sich nicht genügend informiert fühlen. Wenn wir also über Social-Media-Nutzung sprechen, müssten wir eigentlich darüber sprechen, wie wir Menschen mit Erkrankungen so unterstützen können, dass sie nicht über falsche Informationen stolpern, sondern gute und verständliche Informationen finden, die sie wirklich unterstützen. Es wird immer Menschen geben, die ihre Symptome erst einmal googeln, bevor sie zum Arzt gehen und dafür müssen wir etwas tun. Auch wenn nicht jedem gefällt, dass Dr. Google im Leben so mancher Patienten eine durchaus wichtige Rolle spielt.

Was kann „Patient“ da Ihrer Meinung nach tun?

Jemand muss entscheiden können, was eine gute oder eine schlechte Information ist. Also brauchen Patienten die Möglichkeit, sich Medienkompetenz zu verschaffen. Sie müssen mit einer gesunden Portion Misstrauen und gesundem Menschenverstand agieren und sich überlegen, was stimmen kann und was nicht. Das ist aber gar nicht so einfach. Wir brauchen mehr leicht zugängliche und präsente wie vertrauenswürdige Quellen: Informationen von Krankenkassen, Ministerien oder Patientenorganisationen, die in den Suchergebnissen ganz oben erscheinen. Der Patient muss dadurch über ein Paket an Informationen verfügen können, das ihm eine gewisse Sicherheit gibt. Ich glaube auch, dass Ärzte mehr Zeit brauchen, um ihren Patienten genügend Informationen über eine Erkrankung zu geben und zu sehen, dass alles gut verstanden wird. Damit kann man viel dafür tun, dass Patienten informiert sind und vernünftig entscheiden. Es gibt auch Ärzte, die sich bereits online in Blogs oder auch in den sozialen Netzwerken engagieren und auch das betrachte ich als wertvolle Hilfe.

Wie gehen Sie mit Fake News um?

Ich recherchiere viel und checke alles doppelt. Das ist für mich als MS Blogger und Journalistin eine wichtige Sache, denn auch ich habe eine Verantwortung meinen Leserinnen und Lesern gegenüber. Und wenn ich mir nicht sicher bin, veröffentliche ich nicht. Auch damit niemand in die Irre geführt wird. Generell würde ich mich bei anderen Betroffenen nach guten Quellen erkundigen: Welche Homepage ist gut, wo kann ich mehr lesen? Zum Beispiel sollte man die Cochrane Library kennen, sie liefert mehr wissenschaftliche Ergebnisse, die jedoch immer aktuell und gut recherchiert sind. Auch Websites von Krankenkassen und Patientenorganisationen sind mit geprüften Informationen gefüllt. Dann gibt es die Patientenuniversitäten der medizinischen Hochschule Hannover, die bringen verständliche und gute Informationen. Imoox bietet in Graz Kurse zu verschiedenen Gesundheitsthemen an – diese sind so formuliert, dass man sie versteht. Es gibt auch Journale und Magazine wie das European Medical Journal, wo man tolle Infos finden kann, leider sind diese oft in Englisch publiziert. Allerdings gibt es dafür auch gute Tools zur Übersetzung.

Vielen Dank für das Gespräch!