„Die Sicherheitskultur ist nicht da, wo sie sein müsste“

Im Interview erklärt Dr. Ruth Hecker vom Aktionsbündnis Patientensicherheit zum heutigen Welttag der Patientensicherheit, warum offene Kommunikation im Krankenhaus und in der Arztpraxis so wichtig ist und wie Patienten sich schützen können.

Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS).Frau Dr. Hecker, was genau bedeutet eigentlich Patientensicherheit?
Aus der Sicht des Patienten geht es darum, dass er gesünder aus dem Krankenhaus entlassen wird, als er aufgenommen wurde. Das ist das Grundziel. Vom Aufnahmeprozess bis zur Entlassung lauern jedoch überall mögliche Risiken für den Patienten. Diese sind dem Klinikpersonal durchaus bewusst.

Können Sie Beispiele nennen?
Das fängt damit an, dass der Patient Medikamente mitbringt, aber er muss auch umgestellt werden und neue erhalten aufgrund seiner Erkrankung. Wir haben also schon im Rahmen des Prozesses der Arzneimittelverordnung bis hin zur Darreichung der Medikamente relativ viele Schnittstellen und Probleme, sodass es sein kann, dass der Patient nicht die richtigen Arzneimittel bekommt.

Wo gibt es weitere Probleme?
Bei der Hygiene: Werden die Hände desinfiziert und häufig genug an den richtigen Stellen – immer nach dem Kontakt mit dem Patienten, bevor man zum anderen Patienten geht? Wie sieht es aus mit Infektionen: Sind die Patienten isoliert, die isoliert werden müssten, um Keime nicht weiterzuverbreiten? Landet die Blutprobe, die unter meinem Namen abgenommen wurde, wirklich im Labor? Diese ganzen Risiken zu beherrschen, bedeutet Patientensicherheit. Der Patient wird sicher durch den Krankenhausaufenthalt und die Arztpraxis geführt und bekommt am Schluss die richtige Diagnose und Therapie zur richtigen Zeit.

Welche Rolle spielt das Verhalten des medizinischen Personals?
Eine sehr wichtige. Die handelnden Personen eines Krankenhauses oder einer Praxis müssen Sicherheit wirklich als erstrebenswertes Ziel sehen und nicht die Ökonomie. Wir wollen, dass Patientensicherheit bei Entscheidungsprozessen ein Kriterium wird und dass die handelnden Personen ihre Innovationskompetenz in den Dienst der Verwirklichung von Sicherheit stellen. Es ist wichtig, dass die Praxis oder das Krankenhaus einen Zustand aufweist, der dazu führt, dass die unerwünschten Ereignisse selten auftreten, dass Sicherheitsverhalten bei den Mitarbeitern gefördert wird und Risiken beherrscht werden.

Was kann ein Patient tun, um zu seiner eigenen Sicherheit beizutragen?
Wir haben den Ratgeber „Sicher im Krankenhaus“ und „Sicher in der Arztpraxis“ herausgegeben. Ein wichtiger Tipp: Lassen Sie sich von einer Person ihres Vertrauens begleiten, weil vier Ohren einfach mehr hören als zwei. Zudem sollte man versuchen, sich trotz Krankheit an den Entscheidungen, die für die Behandlung wichtig sind, zu beteiligen und aktiv zu sein. Das ist für Betroffene natürlich sehr schwer, denn man ist mit dem Krankheitsgeschehen schon so beschäftigt, dass man manchmal nicht in der Lage ist, Entscheidungshilfen herbeizuholen, selbst zu recherchieren oder eine Zweitmeinung einzuholen. Aber in manchen Fällen muss man die Kraft aufbringen.

Wo ist Patientensicherheit besonders gefährdet?
Patientensicherheit ist immer da gefährdet, wo es sich um akute Fälle und Notfälle handelt – weil dann häufig eingespielte Prozesse in der Arztpraxis oder im Krankenhaus durcheinandergeraten. Das kann man sich so ähnlich vorstellen wie bei einem Verkehrsunfall: Es laufen alle umher, wollen helfen und das Richtige tun, aber die Abläufe stimmen nicht. In Notfallsituationen müssen ganz schnell wichtige und richtige Entscheidungen getroffen werden.

Gibt es weitere Gefahrensituationen?
Immer dort, wo Menschen nicht gut miteinander reden. Kommunikation ist das wichtigste Element, was zur Patientensicherheit beiträgt. Dazu können auch Patienten beitragen, indem sie ehrlich und wahrhaftig sagen, ob und welche Tabletten sie nehmen – gerne wird das schon mal verschwiegen. Wir wissen, dass unzureichende oder fehlerhafte Kommunikation im Gesundheitswesen ein riesiges Problem für die Patientensicherheit ist.

Wie kann man eine offene Kommunikationskultur in den Krankenhäusern fördern?
Wenn wir das wüssten. Das ist ein tagtägliches Thema. Die Menschen wollen gut kommunizieren und bemühen sich auch. Kommunikation im Krankenhaus bedeutet neben dem Vier-Ohren-Modell – wie redet er mit mir und was höre ich dabei – natürlich auch, dass man in der Kommunikation einen Standard braucht. Derjenige, der einen Auftrag annimmt, wiederholt diesen und derjenige, der den Auftrag gegeben hat, bestätigt ihn. Das ist die die Drei-Wege-Kommunikation, denn man kann ein falsches Medikament gehört haben oder eine falsche Dosis. Wir müssen mehr solcher Kommunikationsregeln im Krankenhausalltag lernen. Das Vier-Ohren-Modell ist auch im Krankenhaus sehr wichtig: Was will der Oberarzt mir sagen? Wie redet die Schwester mit mir? Im Krankenhaus sind die Beschäftigten maximal unter Zeitdruck. Ich habe manchmal den Eindruck, es ist kurz vor der Explosion des überhaupt Machbaren. Und da wird die Kommunikation ganz schnell emotional – in solchen Situationen professionell mit der Kommunikation umzugehen, sich nicht gleich angegriffen zu fühlen und reagieren zu können – das ist ein riesiges Thema.

Was trägt zu einer Versachlichung bei?
Viel Versachlichung und Vollständigkeit an Informationen erreichen wir über die im Krankenhaus nach und nach eingeführte elektronische Patientenakte, weil man alles aufschreibt, lesen muss und weniger Informationsverluste hat. Früher sind Zettel verloren gegangen und Akten verschwunden.

Welche Rolle spielen Apps bei der Patientensicherheit?
Sie werden eine sehr hohe Dynamik und Wichtigkeit haben. Gute und validierte Apps können Patienten unterstützen, indem sie die Erkrankung überwachen. Wenn man nicht ständig an bestimmte Dinge denken muss, ist das eine große Erleichterung.

Das APS fordert den Beruf des Patientensicherheitsbeauftragten: Was wären dessen Hauptaufgaben?
Es geht uns vor allem um den Chief Patient Safety Officer (CPSO): Er soll dafür sorgen, dass es sich die Führungsebene und der Vorstand in den Häusern und Klinikketten zur Aufgabe machen, Verantwortung für die Patientensicherheit zu übernehmen. Die Aufgabe des CPSO ist nicht die des normalen Qualitätsmanagementbeauftragten, der schaut, dass eine Zertifizierung klappt.

Sondern?
... die indirekten Einflüsse auf die Patientensicherheit wie etwa Personalassessment oder der Einkauf der Medizinprodukte zu überblicken. Was kaufe ich ein und welchen Einfluss haben diese Produkte auf die sichere Versorgung der Patienten? Welche Medizinprodukte sind gut einsetzbar bei den Mitarbeitern? Er hat die strategische Verantwortung, dass Patientensicherheit ein wirkliches Entscheidungskriterium ist. Und er soll die Informationen aus den verschiedenen Bereichen der direkten und indirekten Einflussnahme regelmäßig bewerten.

Wie kamen Sie selbst dazu, sich für das Thema Patientensicherheit einzusetzen?
Das ist eine spannende Frage. Erstens habe ich viel gesehen, was nicht gut läuft und das wollte ich verändern. Als junge Assistenzärztin regte ich mich schon früh darüber auf, wenn man Entscheidungen hätte anders treffen können, wenn man nicht gut eingearbeitet war oder wenn Dinge nicht gut gelaufen sind und man als Mitarbeiter nichts daran ändern konnte. Mich hat das Thema Patientensicherheit immer beschäftigt, weil ich finde, dass ein Patient ein Recht darauf hat, gesünder aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, als er hineingekommen ist. Außer es liegt in seiner Krankheit begründet – zum Beispiel können wir das für onkologische Patienten nicht immer sagen.

Und zweitens?
Zweitens war ich selbst einmal Patientin, als ich bereits fertige Ärztin war. Damals war nach einem langen Krankenhausaufenthalt der Arztbrief so formuliert, dass er fünf falsche Diagnosen enthielt und auch die Werte stimmten nicht. Das ist jetzt 20 Jahre her und leider ist es bis heute nicht besser geworden. Und auch vor meinem Medizinstudium habe ich als Krankenschwester immer bemerkt: Patienten sind ohne Angehörige echt aufgeschmissen, wenn nicht ab und an jemand schaut und nachfragt. Die Sicherheitskultur ist nicht da, wo sie sein müsste.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich möchte, dass wir uns alle für die Patientensicherheit stark machen und dass das Kriterium Patientensicherheit überall einen höheren Stellenwert bekommt. Ich will, dass wir ehrlich miteinander umgehen, wenn es darum geht, Bedingungen oder Fehler anzusprechen, und versuchen, Lösungen zu erarbeiten. Die Person, die die Probleme anspricht, sollte dies angstfrei tun können.

Vielen Dank für das Gespräch!