Warum eine Angstwende notwendig ist
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen in Europa. Wolfgang Chr. Goede ist Wissenschaftsautor und selbst Betroffener. Im Interview erklärt er, was gesunde Angst bewirkt, wie sich die Angst vor der Angst äußert und wie es um die Selbsthilfe in diesem Bereich steht.
Wolfgang Chr. GoedeHerr Goede, was ist gesunde Angst und wann wird diese krankhaft?
Gesunde Angst warnt uns vor realen Gefahren. Ein Klassiker aus der Evolutionsbiologie: Ich stehe einem gefährlichen Raubtier unmittelbar gegenüber und mein Körper reagiert blitzschnell. Unter anderem wird Adrenalin ausgeschüttet, meine Atmung und mein Herzschlag werden schneller, Aufmerksamkeit und Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen sich. Damit bereitet sich der Körper auf eine Kampf- oder Fluchtsituation vor.
Angst ist also dazu da, um uns zu schützen?
Ja. Die warnende Funktion der Angst betrifft neben potenziell gefährlichen Situationen wie etwa im Straßenverkehr, bei Tieren oder Gegenständen mit Verletzungsrisiken oder der Absturzgefahr in großer Höhe auch soziale Kontexte. So haben wir zum Beispiel auch Angst vor Trennung, Versagen in Leistungssituationen, Statusverlust, Fremden oder Armut. Der Übergang zu so genannten krankhaften Ängsten ist fließend. Allgemein könnte man sagen: Je weniger die objektive Eintrittswahrscheinlichkeit und das Gefahrenpotenzial mit dem subjektiven emotionalen Erleben zusammenpassen und je mehr und je häufiger mich dieses Erleben und das damit verbundene Vermeidungsverhalten beeinträchtigen, desto mehr wird mich diese Angst stören und sich zu einer Angststörung entwickeln.
Eine einzige Ursache zur Entstehung von Angststörungen gibt es nicht. Vielmehr tragen biologische, psychische und soziale Belastungen zur Entwicklung bestimmter Angst-Krankheitsbilder bei. Hinzu kommen Belastungen wie einschneidende Lebensereignisse oder Dauerstress und andere Faktoren wie Vermeidungsverhalten, Grübeln oder vermehrte Selbstaufmerksamkeit. Der Ausbruch einer Angststörung kann als Überschreitung einer Schwelle begriffen werden, ab der die Angst nicht mehr bewältigt und kontrolliert werden kann.
Wie äußert sich die Angst vor der Angst?
Ich stelle mir eine zukünftige angstbesetzte Situation vor. Das kann mehr oder weniger bewusst geschehen. Ich kann es mir lange ausmalen oder das Gefühl ist urplötzlich da. Diese Angstreaktion ist per se schon unangenehm und könnte zusätzlich auch von Dritten negativ bewertet werden. Deshalb habe ich heute schon Angst davor, in dieser zukünftigen Situation mit Angst zu reagieren. Die Angst vor der Angst kann sich bis zu Panikattacken steigern. Sie wird mich eher davon abbringen, mich dieser angstbesetzten Situation zu stellen. Sie ist der Auslöser für das so genannte Vermeidungsverhalten. Menschen mit sozialer Phobie meiden dann soziale Situationen. Agoraphobiker – also Menschen, die Platzangst haben – vermeiden öffentliche Verkehrsmittel, Aufzüge und sonstige Orte ohne Fluchtmöglichkeit oder Orte, an denen sie keine Hilfe bekommen können.
Bei der Diagnose wird das ICD10 verwendet, ein weltweit gültiges Klassifikationssystem aller Krankheiten. Angststörungen werden in zwei große Gruppen eingeteilt: Phobische Störungen und Angststörungen – sie heißen primäre Ängste und lassen sich nicht auf andere Krankheiten zurückführen. Zu ersterer Gruppe gehören Platzangst, soziale Phobie und spezifische Phobien. Andere Angststörungen sind etwa die Panikstörung sowie die generalisierte Angststörung. Sekundäre Ängste werden von einer Krankheit verursacht. Sie können bei Infektionen oder Verletzungen des Gehirns, bei Parkinson, Epilepsie, Diabetes, Schilddrüsenstörung, bei Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris und beim Konsum bestimmter Medikamente oder Drogen auftreten. Weiterhin gibt es komorbide Ängste, die an eine andere Erkrankung anknüpfen, jedoch nicht von dieser verursacht werden. So kann beispielsweise die Diagnose Krebs zu existenziellen Ängsten führen, ohne dass der Krebs die Ängste organisch verursacht hätte.
Wie viele Menschen leiden hierzulande an Angststörungen?
Die Zahlen sind in den letzten zehn bis 15 Jahren ziemlich gleichgeblieben. Angststörungen sind nach wie vor die häufigste psychische Erkrankung. Es leiden zehn bis 12 Millionen Menschen darunter. Sie treten oft auch komorbid auf – also mit anderen psychischen Erkrankungen – und verlaufen häufig chronisch. Die Kosten für das Gesundheitswesen, aber auch die Wirtschaft sind gewaltig: Angststörungen erzeugen 41 Milliarden Euro Kosten in der EU, Tendenz steigend. Wir haben kein rasant wachsendes Problem, aber dafür eines, dass seit vielen Jahren auf einem sehr hohen Niveau verharrt, auch infolge wachsenden beruflichen Stresses, zunehmender Vereinzelung und eher pessimistischer Zukunftsprognosen. Es ist immer die Rede davon, dass Angststörungen gut behandelbar sind, was sicher stimmt, trotzdem gehen die Zahlen nicht zurück. Hinzu kommen auch Engpässe bei der medizinisch-therapeutischen Versorgung.
Welchen Beitrag kann die Selbsthilfe für die Versorgung von Angstpatienten leisten?
Best Practice Modelle wie das der Münchner Angstselbsthilfe MASH belegen, dass Angstselbsthilfe einen wesentlichen Beitrag leisten kann, um die Versorgung von Menschen mit Angststörungen zu verbessern. In Deutschland gibt es etwa 1.200 Angstselbsthilfegruppen, aber keine Vernetzung untereinander und keine Plattform, keine Interessenvertretung und keine speziellen Schulungen oder Qualitätsstandards. Deswegen braucht es eine breit aufgestellte Deutsche Angsthilfe wie die Deutsche Angst-Hilfe DASH.
Was wollen Sie erreichen?
Grundsätzlich geht es der DASH um eine Angstwende. Angst und das offene Gespräch darüber sind ein Tabu in unserer Gesellschaft und damit ein Mitverursacher von Ängsten. Der hohe Schamfaktor bewirkt, dass sich viele Angstbetroffene verstecken, oft sogar selbst vor ihren eigenen Ängsten, was zur Chronifizierung beiträgt. Eine positive Angstkultur, die vom Elternhaus, über Schulen bis hin zu Beruf und Wirtschaft geteilt wird, könnte Ängsten und anderen psychischen Beeinträchtigungen entgegenwirken. Die DASH wurde Ende 2018 gegründet mit dem Ziel, sich als Lobby für die Angstbetroffenen in Deutschland einzusetzen. Die Organisation plant, den 1.200 Initiativen in Deutschland Schulungen anzubieten, wie sich Menschen mit Ängsten in und durch Gruppenaktivitäten selber coachen können. Dabei greift sie auf 30 Jahre Selbsthilfearbeit der Münchner Angstselbsthilfe MASH zurück. Als Angstdachverband will die DASH eng mit Experten in Forschung, Gesundheit und Politik zusammenarbeiten, dabei bringt sie das Wissen von Erfahrungs- und Alltagsexperten ein. Begleitet werden diese Initiativen von einer Kampagne über die sozialen Netzwerke.