„Die Menschen müssen verstehen, warum Gesundheitsdaten so wichtig sind“

Die Digitalisierung beschäftigt uns als Gesellschaft auf vielen Ebenen: In der Schule, der Verwaltung, aber eben auch im Gesundheitsbereich. Stichworte wie DiGA, ePA oder eRezept werden in Zukunft immer wichtiger werden. Aber was haben Patientinnen und Patienten davon?

Frau Bauer, Sie selbst leben mit Multipler Sklerose. Wie können digitale Gesundheitsanwendungen bzw. die elektronische Patientenakte Ihnen und anderen Menschen, die mit chronischen Erkrankungen leben, ganz konkret helfen?

Birgit Bauer: Menschen, die mit chronischen Erkrankungen leben haben ein Problem: Sie sind täglich krank und das braucht viel Energie, Mühe, Geduld, Zeit und Geld. Digitale Gesundheitsanwendungen können Zeit sparen und dabei helfen, das Erkrankungsmanagement besser zu organisieren, z. B. durch Übungen vom Physiotherapeuten, die man mit Hilfe einer App macht, die Einnahme von Medikamenten mittels einer Erinnerung, das Aufzeichnen von Symptomen oder auch das Organisieren von Arztterminen. Das hilft dabei, die Lebensqualität zu verbessern, Zeit besser zu nutzen und dafür zu sorgen, dass Erholung stattfinden kann.



Frau Dr. Köster-Steinebach, das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) hat eine Arbeitsgruppe, die sich intensiv mit der elektronischen Patientenakte (ePA) beschäftigt. Wie fällt Ihr Urteil zum jetzigen Zeitpunkt aus?

Dr. Ilona Köster-Steinebach: Derzeit ist der Nutzen für Patientinnen und Patienten, aber auch für normale Bürgerinnen und Bürger sehr, sehr überschaubar. Das gilt fast noch mehr für Leistungserbringende in allen möglichen Berufen und Bereichen. Die wesentlichen Arbeitsgebiete in Bezug auf die ePA scheinen immer noch die Überwindung der vielen technischen Hürden der unterschiedlichsten Softwaresysteme und der Datenschutz zu sein. Das sind – ohne Zweifel – wichtige Aufgaben, die gelöst werden müssen. Aber der Zweck der ePA ist doch, die Behandlung von Menschen sicherer zu machen und sie darin zu unterstützen, kompetenter in Bezug auf ihre Gesundheit und Gesundheitsversorgung zu werden. Und sie soll Leistungserbringenden zeitgerecht und verlässlich die Daten über ihre Patientinnen und Patienten zur Verfügung stellen, die sie z. B. für die Diagnostik oder Behandlungsplanung brauchen. Dieser Versorgungszweck geht, nach unserem Eindruck, in den aktuellen Aktivitäten und Arbeitsprogrammen bisher weitgehend verloren. Das ist umso bedauerlicher, weil es so leicht passieren kann, dass die technische Ausgestaltung oder die Art der Umsetzung des Datenschutzes dem eigentlichen Sinn der ePA zuwiderlaufen.

Frau Bauer, der Umgang mit Digitalität verlangt den Patientinnen und Patienten eine Menge ab. Vor allem, wenn es sich um ältere Menschen handelt. Was muss passieren, damit alle potenziellen Nutzerinnen und Nutzer digitale Lösungen sinnvoll einsetzen können?

Bauer: Sie müssen zum einen offen für digitale Lösungen sein und sich trauen. Aber das gilt für alle, denn Digitalisierung ist für viele Menschen erst einmal ein fremdes Gebiet. Und daher muss man alle Menschen fördern. Es gibt viele Initiativen z.B. von Bagso, der Interessenvertretung für Senioren, die verschiedene Kurse anbieten, in denen Senioren digitale Formate kennenlernen und mit den Techniken umgehen können. Genauso brauchen wir das für digitale Gesundheitsanwendungen und für alle, die Schwierigkeiten haben, sich mit digitalen Anwendungen zurecht zu finden. Das Thema betrifft nicht nur Senioren. Wir brauchen also Informationen, Bildung und auch Ermutigung für alle Generationen, denn auch jüngere Menschen haben nicht selten Schwierigkeiten, sich mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen zurecht zu finden.

Frau Dr. Köster-Steinebach, haben Sie den Eindruck, dass die Ärztinnen und Ärzte ausreichend vorbereitet sind, um ihre Patientinnen und Patienten im Digitalzeitalter bestmöglich zu versorgen? Was muss passieren, damit dies gelingen kann?

Köster-Steinebach: Ärztinnen und Ärzte arbeiten in ihrem Beruf, weil sie sich mit Medizin beschäftigen möchten, nicht mit IT. Deshalb vertrauen viele bei der Praxisverwaltung auf ihre Softwareanbieter. Das bedeutet aber auch, dass sie von den Anbietern abhängig sind, sowohl was die Umsetzung von arbeitssparenden Lösungen zum Zugriff auf bzw. die Befüllung der ePA angeht, als auch mit Blick auf die Anbindung von weiteren digitalen Angeboten. Man muss das Ganze als Prozesskette begreifen: Am Anfang müssen gute, funktionale Anwendungen existieren. Gemeint ist die ePA als Ganzes, aber auch ihre Einzelanwendungen, also auch Apps, die verordnet werden können. Das System muss so gestaltet sein, dass es intuitiv bedienbar ist und alle nötigen Informationen für die Auswahl von Apps, aber auch die Aufklärung der Patientinnen und Patienten beinhaltet. Dann müssen über die verschiedenen Beteiligten die Wege geebnet werden, wie die Ärztinnen und Ärzte darauf zugreifen können, ohne erst selbst technische Hürden überwinden zu müssen. Ich sehe Deutschland noch nicht an dem Punkt, wo diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Das wiederum bedeutet, dass es heute von der Hartnäckigkeit, dem Einsatz und den IT-Fähigkeiten der einzelnen Praxis-Teams abhängt, welche digitalen Angebote Patientinnen und Patienten bekommen.

Frau Bauer, Frau Dr. Köster-Steinebach, nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie wird aktuell viel über die großen Potentiale der Gesundheitsdatennutzung gesprochen. Was ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig?

Köster-Steinebach: Mit der Nutzung von Gesundheitsdaten verknüpfen sich viele Hoffnungen: bessere Grundlagen für Versorgungsplanung, mehr Versorgungsforschung und vieles mehr. Diese Hoffnungen können sich nur dann erfüllen, wenn die Daten auch inhaltlich verlässlich sind. Das ist ja auch das Anliegen der Patientensicherheit, dass die Daten in der ePA vollständig, aktuell, zuverlässig verfügbar und korrekt sind, um die medizinische Versorgung sicherer zu machen. Die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für diese Anliegen sind heute noch nicht gegeben. Es zeigt sich aber schon jetzt, dass einige klassischen Prinzipien des Datenschutzes – z. B. Datensparsamkeit und Einwilligungsprinzip – unter diesen Bedingungen nicht mehr so funktionieren wie in der Vergangenheit. Es sollte nicht weniger Datenschutz geben, aber dieser muss an die neuen Nutzungsarten von Daten und die neuen Gefahren für die Persönlichkeitsrechte angepasst werden.

Bauer: Auf den Punkt gebracht, brauchen wir Information einerseits und Einbeziehung und Diskussion andererseits. Information heißt: Wir brauchen sichtbare und verständliche Informationen, gute Quellen, die Menschen aufklären. Die Menschen müssen verstehen, warum Gesundheitsdaten so wichtig sind. Beispielsweise für schnellere Diagnosen, bessere Therapien und Pflege, sowie mehr Hilfsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten.
Einbeziehung und Diskussion heißt: Wir müssen allen Bürgerinnen und Bürgern zuhören und mit ihnen diskutieren, um einen vernünftigen Rahmen zu schaffen, der auf Vertrauen basiert. In Zeiten von Patientenzentrierung und personalisierter Medizin muss das möglich sein. Denn die Menschen sollen Daten für aussagekräftige Datensätze zur Verfügung stellen, um am Ende davon zu profitieren. Dafür muss der Rahmen stimmen und den kann man nur gemeinsam schaffen.