"Mehr Mitspracherechte für Patient:innen"

Warum wurde das EU-Pharmapaket auf den Weg gebracht? Welchen Einfluss kann es auf das deutsche Gesundheitssystem haben? Und welche potentielle Auswirkung hat es auf die Versorgungssicherheit für Patient:innen? Darüber haben wir mit Manuela Ripa gesprochen. Sie ist Mitglied im Europäischen Parlament für die Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz und Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie.

Warum wurde das EU-Pharmapaket auf den Weg gebracht?

Manuela Ripa: Die Europäische Kommission hatte bereits im November 2020 eine Pharmastrategie für Europa vorgelegt. Das war lange Zeit überfällig. Sie soll die Versorgung Europas mit sicheren und erschwinglichen Medikamenten sicherstellen und stellt insbesondere Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt. Die Strategie ist auch eine Antwort auf die wiederkehrende Debatte über die Verfügbarkeit von Medikamenten und Versorgungsengpässe von Arzneimitteln. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte einen schnellen und einfachen Zugang zu verlässlichen Medikamenten haben. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass wir bei künftigen Pandemien schnell und entschlossen zusammen auf EU-Ebene handeln müssen. In letzter Zeit waren viele Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten von Medikamentenmangel in den Apotheken betroffen. Das hat uns gezeigt, dass wir nur zusammen als Europäerinnen und Europäer effiziente Lieferketten sicherstellen können.

Das Hauptziel des nun vorgestellten EU-Pharmapakets besteht darin, der Arzneimittelpolitik der EU eine langfristige Vision zu geben. Sie soll sicherstellen, dass diese krisenfest und nachhaltig ist, um die Position der EU als globaler Marktführer im Pharmabereich zu stärken und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Patientinnen und Patienten Zugang zu erschwinglichen Medikamenten haben. Unter den Vorschlägen der Europäischen Kommission ist die Einrichtung einer neuen EU-Behörde für die Reaktion auf gesundheitliche Notfälle (HERA), die schnelle, EU-weite Maßnahmen und Koordination ermöglichen soll. Das Pharmapaket beinhaltet außerdem endlich eine Überarbeitung der Gesetzgebung zu Arzneimitteln für Kinder und Menschen mit seltenen Krankheiten. In der Preis- und Beschaffungspolitik soll die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden besser funktionieren. Und nicht zuletzt soll der Datenaustausch zwischen den EU-Mitgliedsstaaten verbessert werden. Dafür hat die Kommission die Einrichtung eines europäischen Gesundheitsdatenraums vorgeschlagen.

Was bedeutet „Versorgungssicherheit“? Und warum spielt sie im Gesetzespaket eine so große Rolle?

Manuela Ripa: Momentan gibt es in den meisten EU-Mitgliedsstaaten Lieferengpässe bei Medikamenten. Das ist eine Folge von instabilen globalen Lieferketten, die sehr anfällig für wirtschaftliche Krisen sind. In Teilen Deutschlands erlebten wir, dass in vielen Apotheken nur sehr schwer Kindermedikamente zur Fiebersenkung erhältlich waren. Solche Engpässe soll es in Zukunft nicht mehr geben. Versorgungssicherheit bedeutet in diesem Zusammenhang, die Lieferketten von Arzneimitteln sicherer zu gestalten und alle Risikofaktoren auf dem Weg eines Medikaments von der Herstellung bis zum Apothekenregal so gut es geht auszuräumen. Um das zu erreichen, verschärft das EU-Pharmapaket die Pflichten der Pharmaindustrie hinsichtlich der Überwachung und Transparenz ihrer Lieferketten von kritischen und notwendigen Stoffen erheblich. So sollen die Unternehmen beispielsweise Engpassmanagementpläne für alle Medikamente entwickeln und ein Warnsystem für Engpässe oder für Rückrufe eingerichtet werden.

Auf EU-Ebene wird außerdem ein Überwachungssystem für "kritische Engpässe" geschaffen. In diese Liste werden alle Arzneimitteln aufgenommen, die für die Gesundheitssysteme der EU von entscheidender Bedeutung sind. Die Europäische Arzneimittelagentur soll eine Führungsrolle bei der Überwachung und Eindämmung von Engpässen übernehmen.

Welche Auswirkungen kann das Gesetz auf die Patient:innen haben?

Manuela Ripa: Die Patientinnen und Patienten in der gesamten EU sollen durch das EU-Pharmapaket gleichermaßen zeitnah einen besseren Zugang zu wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln haben. Heutzutage ist dies insbesondere bei neuen Arzneimitteln nicht immer der Fall. Das soll nun geändert werden. Darüber hinaus sollen Generika, also Kopien von Medikamenten, die bereits auf dem Markt sind, schneller erhältlich sein, wodurch der Wettbewerb zwischen den Pharmaunternehmen erhöht wird und der Preis für die Patientinnen und Patienten sinkt. Mehr neue Arzneimittel sollen medizinische Versorgungslücken schließen und der Verwaltungsaufwand für Arzneimittelentwickler und Generikahersteller soll reduziert und somit Kosten gesenkt werden.

Schließlich sollen neue Regeln Patientinnen und Patienten mehr Mitspracherechte geben. So sollen Patientenorganisationen leichteren Zugang zu Informationen bei der Zulassung von Arzneimitteln bekommen und Vertreterinnen und Vertreter in die Ausschüssen der Europäischen Arzneimittelagentur entsenden können.
Besonders wichtig ist auch, dass Arzneimittel endlich auch ökologisch und nachhaltiger werden, was der Gesundheit aller zugutekommt. Die Umweltrisikobewertung für alle Arzneimittel werden durch das EU-Pharmapaket verstärkt, auch für bereits zugelassene Arzneimittel, um mögliche Schäden für die Umwelt und die öffentliche Gesundheit zu verringern. Zudem sollen durch umweltfreundlichere Produktion und eine sachgerechte Entsorgung von Arzneimitteln und antimikrobiellen Mitteln weniger Arzneimittel in der Umwelt freigesetzt werden.

Welchen Einfluss kann das EU-Pharmapaket auf das deutsche Gesundheitssystem haben?

Manuela Ripa: Die neuen Regelungen werden Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme aller Mitgliedsstaaten haben. Die deutsche Pharmaindustrie als größter europäischer Pharmaproduzent dürfte die Folgen am deutlichsten zu spüren bekommen. Künftig müssen unsere Pharmaunternehmen strengere Transparenzvorschriften erfüllen, was für Patientinnen und Patienten aber einen positiven Fortschritt bedeutet – denn so könnten die Preise sinken und der Zugang zu Arzneimitteln verbessert werden. Die Pharmastrategie sollte auch dem Problem ein Ende setzen, das unsere Bürgerinnen und Bürger schon seit einiger Zeit beschäftigt: dem Mangel an Standardmedikamenten in der Apotheke. Es kann nicht angehen, dass Mütter mehrere Apotheken aufsuchen müssen, um die Antifiebermedikamente für ihr krankes Kind zu bekommen. So etwas darf heutzutage nicht passieren und lässt sich mit den neuen Lieferkettenvorschriften verhindern.

Viele Maßnahmen des Pharmapakets werden die Entwicklung innovativer Arzneimittel beeinflussen. Der Zulassungsprozess für neue Medikamente wird dank vereinfachter Verfahren und einer überarbeiteten Struktur der europäischen Arzneimittelagentur beschleunigt. Die Agentur wird künftig eine frühzeitige wissenschaftliche Beratung für neue Anträge zur Verfügung stellen und kleinen und mittelständischen Unternehmen maßgenschneiderte Unterstützung bieten. Dadurch soll die Qualität der Zulassungsanträge deutlich verbessert werden. Darüber hinaus soll das Regulierungssystem mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt mithalten können. Dazu gehört auch die Förderung innovativer Methoden, die zur Reduzierung von Tierversuchen beitragen können. Die neuen Regeln sollen sicherstellen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger schneller und zugleich sicherer von pharmazeutischen Innovationen profitieren können.

Schließlich soll auch ein europäischer Gesundheitsdatenraum geschaffen werden, der es deutschen Patientinnen und Patienten erleichtern wird, Ärzte und Krankenhäuser im EU-Ausland aufzusuchen und dies über ihre Krankenversicherung abrechnen zu lassen.

Wie bewerten Sie die den Gesetzesentwurf?

Manuela Ripa: Ich sehe es positiv, dass wir endlich einen Vorschlag der Kommission vorliegen haben, nachdem er mehrere Male verschoben wurde, der einige Verbesserungen beinhaltet. Insbesondere ist es von entschiedener Bedeutung, dass für die Patientinnen und Patienten in der EU ein schneller, fairer und bezahlbarer Zugang zu kostenwirksamen Arzneimitteln erleichtert werden soll.

Als ÖDP-Europaabgeordnete, die sich stark für mehr Naturschutz einsetzt, freue ich mich auch, dass der neue Vorschlag die Pflichten der Industrie im Hinblick auf die Auswirkungen von Arzneimitteln auf die Umwelt entlang ihrer gesamten Lieferkette erheblich stärkt. Ich begrüße, dass darin gefordert wird, dass für alle Arzneimittel eine Umweltrisikobewertung als integraler Bestandteil der Risiko-Nutzen-Bewertung für die Marktzulassung durchgeführt werden muss, und dass dies auch ein alleiniger Grund für die Verweigerung der Marktzulassung von Arzneimitteln sein kann. Allerdings könnten die Anreize für die nachhaltige Produktion von Arzneimitteln stärker sein.

Darüber hinaus ist positiv, dass der Vorschlag die Regeln für Inspektionen stärkt. Die europäische Arzneimittelbehörde wird künftig die Möglichkeit haben, Inspektionen zu Herstellungspraxis und -standards in Produktionsstätten durchzuführen. Dies kann auch in Produktionsstätten außerhalb der EU geschehen. Außerdem wird das Sanktionssystem für die Nichteinhaltung der Gesetze verstärkt. Das EU-Pharmapaket enthält zudem einige Verbesserungen bei der Kennzeichnung. So müssen einige Antibiotika mit dem Warnhinweis versehen werden, dass sie antimikrobielle Resistenzen hervorrufen können. Das war längst überfällig. Die Notwendigkeit, dass alle Antibiotika nur auf Rezept erhältlich sein dürfen, ist auch ein wichtiger Schritt nach vorne. Allerdings ist das noch keine endgültige Lösung. Weltweit sind bis 2050 mehr als 10 Millionen Todesfälle pro Jahr durch Antibiotika-Resistenz zu erwarten, wenn keine Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Wir brauchen dringend konkrete Schritte, um den Kern dieses Problems zu bekämpfen.

Was die Reduzierung von Tierversuchen angeht, enthält das Paket nur vage Formulierungen und diese müssen unbedingt noch konkreter ausformuliert werden. Schließlich ist es zu begrüßen, dass bei der Beurteilung der Marktzulassung auch andere Datenquellen zu Rate gezogen werden wie z.B. unabhängige Forschungsergebnisse, beispielsweise von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen. Sie sollen so eine größere Rolle bei der Risikobewertung spielen.

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