"Kinder stehen im Fokus, wir achten besonders auf ihren Schutz"

Wenn es um Kinderarzneimittel geht, ist die Gesellschaft besonders vorsichtig, sagt Risikoforscher Ortwin Renn. Im Interview erklärt er, wie Eltern risikokompetente Entscheidungen treffen können – auch mit Blick auf eine Impfung des eigenen Kindes gegen Covid-19.

Warum ist das Thema Kinderarzneimittel so ein sensibles Thema?

Ortwin Renn: Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe der Gesellschaft. Im Gegensatz zu früher gibt es heutzutage vorwiegend Ein- bis Zwei-Kind-Familien. Dadurch stehen die Kinder stärker im Fokus, sind sozusagen kostbarer geworden. Deshalb achten wir in besonderem Maße auf den Schutz dieser Gruppe. Wenn ein Kind stirbt oder ernsthaft krank wird, ist das für die Eltern immer eine Katastrophe. Als Gesellschaft sind wir außerdem insgesamt risikoscheuer geworden. Das gilt insbesondere für unseren Blick auf die Kinder.

Ortwin Renn rät Eltern dazu, sich vor der Impfung des Kindes über mögliche Risiken gut zu informieren.

Derzeit wird viel über Covid-Impfungen für Kinder gesprochen. Dabei kommen zwei viel diskutierte Themen zusammen: Kinderarzneimittel und Impfungen. Was bedeutet das für die Risikoeinschätzung?

Bei jeder Impfung muss ich mich fragen: Wie hoch ist das Risiko zu erkranken gegenüber dem Risiko, dass die Impfung Nebenwirkungen auslöst? Die Impfkommission wägt diese Frage für die Gesellschaft ab. Es wird kein Impfstoff zugelassen, bei dem das Risiko auch nur nennenswert in die Nähe dessen kommt, was wir durch die Impfung verhindern wollen. Aber jede Person selbst muss diese Abwägung auch für sich bzw. ihr Kind vornehmen. Und da kann es sein, dass die Abwägung sich nicht allein an den nackten Zahlen orientiert, sondern auch an anderen Faktoren, die mitunter aus der persönlichen Perspektive stärker ins Gewicht fallen.

Wenn Eltern vor der Frage stehen, ob sie ihr Kind gegen Covid-19 impfen lassen sollen: Was können sie tun, um eine risikokompetente Entscheidung zu treffen?

Es ist wichtig, dass sie sich gut informieren. Es gibt eine Reihe guter Websites, die alle wichtigen Risikodaten zur Verfügung stellen – zum Beispiel die Website des Robert-Koch- (RKI) oder auch des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Auch die Ständige Impfkommission (Stiko) bietet solche Zahlen an. Das sind die besten Daten, die wir haben. Dann müssen wir uns klar machen: Covid-19-Erkrankungen bei Kindern sind selten tödlich, aber Kinder können an Long-Covid erkranken und damit ist nicht zu spaßen. Eltern müssen dieses Erkrankungsrisiko gegen das Risiko abwägen, dass es bisher sehr selten Impf-Nebenwirkungen bei der Covid-Impfung gab. Zudem bin ich der Meinung, dass man nur dann impfen lassen sollte, wenn die Ständige Impfkommission es empfiehlt. Als Risikoforscher sage ich: Es sollte eine Abwägung sein, die sich daran orientiert, was das Kindeswohl fördert.

Wie risikokompetent hat sich die deutsche Bevölkerung mit Blick aufs Impfen gezeigt?

Die klassische Definition lautet Risiko = Wahrscheinlichkeit x Ausmaß. Was ist also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schaden eintritt und wie viele Menschen sind davon betroffen? Das Ergebnis ist das kollektive Risiko. Risiko hat aber immer auch mit subjektiver Wahrnehmung zu tun. Es gibt also weitere Merkmale, die für die subjektive Wahrnehmung eine Rolle spielen: Ist eine Impfung freiwillig oder nicht, was nimmt der Einzelne als Worst-Case-Szenario wahr? Auf diese subjektiven Merkmale können offizielle Institutionen keine Rücksicht nehmen. Aber sie können den Menschen Anhaltspunkte an die Hand geben, auf deren Basis der Einzelne dann seine persönliche Risikoabwägung treffen kann. Und sie können Empfehlungen geben, indem sie auf die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Risiko der Impfung und dem Risiko der durch die Impfung verhinderten Krankheit verweisen.
Ein paar Punkte haben die Wahrnehmung in der Bevölkerung beeinflusst: Zu Beginn der Impfkampagne gab es nicht ausreichend Impfstoff und die prognostizierten Wartezeiten waren lang. Dann kam die Diskussion um AstraZeneca, die abschreckend gewirkt hat. Außerdem muss sich jeder ein bisschen überwinden, sich impfen zu lassen. Wenn vor diesem Hintergrund zum Beispiel ein junger Mensch denkt: Ich bin jung und fit, eine Covid-Infektion wird bei mir wahrscheinlich eher mild verlaufen und wenn er auf der anderen Seite die statistisch möglichen Nebenwirkungen einer Impfung und seinen Platz in der „Warteschlange“ sieht, dann kann die Abwägung durchaus zuungunsten des Impfens ausgehen. Man sieht: subjektive Faktoren haben Einfluss auf die Risikokompetenz.

Zu guter Letzt: Kann man Risikokompetenz üben?

Ja. Jeder kann überlegen, was er den Tag über tut und dann nachprüfen, welche Risiken bzw. welcher Nutzen damit verbunden sind und ob der Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zum Risiko steht. Wenn jemand jeden Tag vier Gläser Wein trinkt und sich Risiko und Nutzen anschaut, wird ihm schnell klar werden, dass der Mengeneffekt eine Rolle spielt. Ein Glas Wein ist vertretbar. Wenn es aber mehr werden, sind zunehmend gesundheitliche Schäden zu erwarten. So kann man sich alle risikoreichen Aktivitäten ansehen: Wie hoch ist das Risiko einen Autounfall zu haben? Wie häufig sind Badeunfälle? Wie gefährlich ist Radfahren ohne Helm? Im Internet gibt es Zahlen zu all diesen Dingen. Wenn ich mir diese Zahlen anschaue, entsteht ein Gefühl für Abwägungsprozesse und Verhältnismäßigkeit. Das ist eine gute Übung. Manche Dinge, vor denen wir viel Angst haben, sind letztlich gar nicht so risikoreich verglichen mit anderen Dingen, die wir täglich tun, ohne groß darüber nachzudenken.

Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn ist Soziologe und wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. Der Risikoforscher hat mehrere Bücher über die Wahrnehmung von Risiken geschrieben, zuletzt: „Das Risikoparadox: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten.“