"Rechte lassen sich nicht wahrnehmen, wenn man sie nicht kennt"
Wie bewertet die aktuelle Bundesregierung die Entwicklung der Patient:innenrechte? Was muss in naher Zukunft noch getan werden? Und wie können Patient:innenrechte und -vertretungen noch weiter gestärkt werden? Diese und noch mehr Fragen beantwortet uns Stefan Schwartze. Er ist der Patientenbeauftragte der Bundesregierung und Mitglied des Deutschen Bundestages (SPD).
10 Jahre Patientenrechtegesetz - Wie bewerten Sie die Entwicklung der Patient:innenrechte?
Stefan Schwartze: Es war gut und richtig, dass das Patientenrechtegesetz 2013 endlich gekommen ist, weil die vorhandenen Rechte für die Patientinnen und Patienten in unzähligen Einzelregelungen und Gerichtsurteilen verstreut waren. Die gesetzliche Regelung der Patientenrechte wurde ja seit Langem gefordert und es gab die unterschiedlichsten Ansätze: Von einem eigenen Sozialgesetzbuch bis hin zu dem was, wir jetzt haben, den Behandlungsvertrag im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in den § 630a bis § 630h. Die Entscheidung für die Verankerung im BGB war folgerichtig, da der Behandlungsvertrag nach dem Kaufvertrag der zweithäufigste Vertragstyp in Deutschland ist. Die damaligen Kritiker verlangten nicht nur die gesetzliche Festschreibung des Ist-Standes, sondern auch eine Stärkung der Patientenrechte. Nach nunmehr zehn Jahren Patientenrechtegesetz ist es an der Zeit, notwendige Weiterentwicklungen zu diskutieren. Bedarf gibt es nämlich, da sich die Rechtsprechung verständlicherweise aufgrund der gesetzlichen Regelungen mit einer offensiven Weiterentwicklung der Patientenrechte zurückgehalten hat.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf und an welchen „Stellschrauben“ muss weitergedreht werden?
Stefan Schwartze: Die dringlichsten Reformbedarfe sehe ich beim Einsichtsrecht in die Patientenakte, bei den Aufklärungs- und Informationspflichten und bei der Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht. Als Patientenbeauftragter ist es mir besonders wichtig, Patientinnen und Patienten bei einem Verdacht auf einen Behandlungsfehler besser zu unterstützen. Der Koalitionsvertrag formuliert hierzu das absolut richtige Vorhaben: Die Stellung der Patientinnen und Patienten im Haftungssystem zu stärken. Um dieses Ziel zu erreichen, schlage ich vor, die seit längerem diskutierte Absenkung des Beweismaßes eingehend zu prüfen. Nach geltendem Arzthaftungsrecht müssen Patientinnen und Patienten zweifelsfrei nachweisen, dass ein Behandlungsfehler die Ursache für einen erlittenen Gesundheitsschaden ist. Dieser Nachweis gelingt im Rechtsstreit aufgrund der Komplexität von Ursache und Wirkung im menschlichen Körper oft nicht. Wenn es zukünftig für den Nachweis der Kausalität ausreichend wäre, dass der Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden überwiegend wahrscheinlich ist, erhöht dies im Schadensfall die Chancen für die Betroffenen, ihre Rechte durchzusetzen.
Beim Einsichtsrecht und den Aufklärungs- und Informationspflichten haben wir schon gute gesetzliche Regelungen, leider werden diese nicht immer so umgesetzt. Hier müssen wir Wege finden, wie wir dafür sorgen können, dass die Einsichtnahme wirklich zeitnah möglich ist, ohne dass die Patientin oder der Patient das Vertrauensverhältnis zu seiner Ärztin bzw. seinem Arzt aufs Spiel setzt. Bei den Aufklärungs- und Informationspflichten habe ich vor allem die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) im Blick. Auch hier haben wir gute gesetzliche Vorgaben, die leider nicht immer eingehalten werden. Zuletzt möchte ich gerne die Informationsrechte vulnerabler Menschen stärken, die einen besonderen Bedarf an Aufklärung und Information haben.
Die aktuelle Bundesregierung hat sich eine weitere Stärkung der Patientenbeteiligung und Patientenversorgung in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen. Was sind die aktuellen Vorhaben und nächsten Schritte?
Stefan Schwartze: Zunächst ist auch hier der Auftrag des Koalitionsvertrages und das Zusammenfallen eines Jubiläums spannend und gibt doppelten Anlass zur Revision: Die kollektiven Patientenrechte, die Patientenbeteiligung feiert nächstes Jahr 20-jähriges Jubiläum. Ich plane, die Patientenorganisationen bei ihrer Jubiläumsfeier zu unterstützen. Über die Weiterentwicklung der Patientenvertretung in den Gremien der Selbstverwaltung bin ich schon seit Amtsantritt mit den Beteiligten im Austausch. Die Stärkung, wie der Koalitionsvertrag sie fordert, ist ja in vielerlei Hinsicht denkbar: von der Ausweitung der Rechtsposition der Patientenvertretung bis hin zu der Verbesserung der Ressourcen der Patientenorganisationen.
Wie wollen Sie die Patientenrechte und -vertretung darüber hinaus noch weiter stärken?
Stefan Schwartze: Für die Stärkung der Patientenrechte, aber auch der Patientenbeteiligung ist ihre Bekanntheit und Sichtbarkeit wesentlich. Rechte lassen sich nicht wahrnehmen oder auch befolgen, wenn man sie nicht kennt. Sie müssen eingefordert werden können. Ebenso müssen auch Ärztinnen und die Ärzte sowie die anderen Berufsgruppen im Gesundheitssystem ihre Pflichten kennen, um diese entsprechend umzusetzen. Hier sehe ich noch erheblichen Handlungsbedarf, wie Studien es uns immer wieder zeigen. Als einen Beitrag habe ich zum 10-jährigen Jubiläum des Patientenrechtegesetzes unsere Patientenrechte unter www.patientenrechte-staerken.de verständlich und informativ aufbereiten lassen. Der nächste Schritt wird sein, die Patientenrechte in einfache Sprache zu übersetzen und dann Videoclips dazu zu erstellen.
Was wünschen Sie sich für die nächsten zehn Jahre?
Stefan Schwartze: Ich wünsche mir einen Kulturwandel bei der Durchsetzung der Patientenrechte. Es muss eine Selbstverständlichkeit werden, seine Behandlungsunterlagen einzusehen und mitnehmen zu können. Hier erhoffe ich mir auch Fortschritte von der elektronischen Patientenakte. Patientinnen und Patienten dürfen nicht als Bittsteller auftreten und das Arzt-Patientenverhältnis gefährden müssen, wenn sie das Röntgenbild zur Zweitmeinung mitnehmen wollen.
Insgesamt wünsche ich mir ein Mehr an „Auf-Augenhöhe“ zwischen Behandelnden und Patienten. Das Gesundheitssystem fordert die aktive Mitwirkung der Patientinnen und Patienten ein. Das müssen die handelnden Akteure dann aber auch zulassen. Dazu wünsche ich mir die Absenkung des Beweismaßes für die Kausalität zwischen Fehler und Schaden bei Behandlungsfehlern. Hier führt die bestehende Rechtslage zu Ungerechtigkeiten und untergräbt damit die so wichtige Akzeptanz und das Vertrauen in das System. Letztlich brauchen wir im Gesundheitswesen einen Perspektivwandel der Entscheidungsebene, der Politik und der Selbstverwaltung hin zu dem der Patientenperspektive: Wie sieht die erlebte Versorgungsrealität aus und was sind die wirklich patientenrelevanten Endpunkte in der gesundheitlichen Versorgung. Darüber möchte ich gerne auch in Zukunft diskutieren.