Hilfe für Patienten ohne Diagnose
In Deutschland leben schätzungsweise vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung. Diagnose und Therapie der über 6000 unterschiedlichen Erkrankungen sind eine besondere Herausforderung. Der Kinderarzt Prof. Lorenz Grigull leitet eine Anlaufstelle für pädiatrische Patienten, die bisher noch nicht diagnostiziert werden konnten.
Am Zentrum für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Bonn (ZSEB) gibt es eine Spezialambulanz für Erwachsene und Kinder ohne Diagnose. Warum ist das nötig?
Das ist nötig, weil die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnose bei seltenen Erkrankungen zu lang ist. Die Patienten müssen unnötig lange warten und unnötig viele Tests machen, da oft auch Fehldiagnosen im Raum stehen. Normalerweise trägt der Hausarzt die ganze Last der Verantwortung. Das ist meiner Meinung nach „unsportlich“. Hausärzte haben eine Lotsenfunktion, diese hat jedoch Grenzen. Wir sind ein Land ohne digitale Patientenakte, wie soll der Hausarzt da den Überblick behalten, insbesondere wenn so viele Patienten in die Praxis kommen? Wir am ZSEB verstehen uns als ergänzende Ansprechpartner, wie ein Hausarzt, für Menschen ohne Diagnose.
Prof. Lorenz Grigull leitet am ZSEB eine Spezialambulanz für Patienten ohne Diagnose.Warum dauert es so lange bei seltenen Erkrankungen eine Diagnose zu finden?
Die Diagnose ist der Kernpunkt des ärztlichen Tuns, bei seltenen Erkrankungen ist sie aber eine besondere Herausforderung. Zum einen ist das klinische Erscheinungsbild sehr unterschiedlich. Vielleicht gibt es drei Patienten, mit der gleichen Krankheit, aber bei jedem sieht sie unterschiedlich aus. Es ist daher nicht immer leicht, die Krankheitszeichen richtig zu deuten. Unter Umständen muss der Arzt eine Erkrankung erkennen, die er noch nie gesehen hat und von der er vielleicht noch nicht mal weiß, dass es sie gibt. In Deutschland gibt es etwa vier Millionen Patienten mit seltenen Erkrankungen. Wir machen es den Profis aber auch nicht leicht. Für solche langen Befunde erhalten die Ärzte nicht mehr Geld. Egal ob der Arzt die richtige Diagnose stellt, eine Fehldiagnose oder er den Patienten nach der Untersuchung weiterschickt, er erhält prinzipiell den gleichen Erlös für die ärztliche Konsultation. Es gibt kein Belohnungssystem und die große Bedeutung der Diagnose ist meiner Ansicht nach im deutschen System nicht ausreichend verankert.
Wie groß ist die Chance, dass eine seltene Erkrankung (richtig) diagnostiziert wird?
Würde man einen Patienten mit einer seltenen Erkrankung vier Tage stationär aufnehmen, alle Tests mit ihm machen und maximale Ressourcen aufwenden, würde man nach meiner Einschätzung heute für maximal 40 Prozent der Patienten zu einer Diagnose kommen.
Wie finden Sie die Diagnose und wie hilft Ihnen künstliche Intelligenz dabei?
Ein Team von Studierenden sortiert die eingeschickten Unterlagen, sie sind auch beim Ambulanztermin mit dem Betroffenen anwesend. Dann erstellen sie einen Fallbericht, der in der interdisziplinären Fallkonferenz diskutiert wird. Das ist das Kernstück unserer Arbeit. Pro Jahr bekommen wir etwa tausend Anfragen, 400 Fälle bearbeiten wir, allerdings nehmen nicht alle dieser Patienten einen Ambulanztermin wahr. Außerdem machen wir eine datenbankgestützte Recherche. Dazu arbeiten wir mit Patienten-Fragebögen, deren Antwortmuster mit Datenbanken verglichen werden, um Hinweise auf bestimmte Krankheitsgruppen zu finden. Solche Datenbanken sind zum Beispiel Isabel Healthcare oder FindZebra. Wir entwickeln auch gerade eine eigene Datenbank mit KI-basierten Analyse-Werkzeugen, die für interessierte Ärzte zugänglich ist.
Was passiert, nachdem Sie die Diagnose gefunden haben?
Wenn wir für Patienten eine Diagnose gefunden haben, lotsen wir sie in ein Behandlungszentrum. Dort hat man die nötige Expertise. Außerdem schauen wir, ob es Selbsthilfegruppen gibt. Es existieren ja großartige Selbsthilfegruppen, die sich etabliert haben, weil es Lücken im System gibt. Deren Rolle darf man nicht unterschätzen. Außerdem vermitteln wir die Patienten an eine Beratungsanlaufstelle, die Betroffen z.B. dabei hilft Nachteilsausgleiche zu beantragen. Im schlimmsten Fall bedeutet die Diagnose ja eine chronische Erkrankung mit direktem Einfluss auf das Leben der Betroffenen. Eine solche Beratung, die z.B. auch sozialrechtliche Aspekte einschließt, können wir im Moment noch nicht leisten.
Und was geschieht mit den Patienten, für die Sie keine Diagnose finden?
Wenn wir keine Diagnose finden können, besprechen wir mit den Betroffenen und ihren Familien das Ergebnis. Wir helfen ihnen mit Bewältigungsstrategien und geben Tipps, wie sie durch den Alltag kommen oder eine Reha finden. Manchmal braucht es für die Diagnose auch leider einfach noch mehr Zeit. Wir können heute keine Diagnose finden, aber in zwei bis drei Jahren gibt es vielleicht neue medizinische Erkenntnisse und Fortschritte, die eine Diagnosefindung ermöglichen.
Was ist, neben den physischen Leiden, das Schwierigste für Patienten ohne Diagnose?
Wenn man sich krank fühlt und niemand glaubt einem, weil die Krankheit unsichtbar ist – z.B. Kopfschmerzen – das ist etwas ganz Schlimmes. Vielleicht wird sogar noch gesagt, dass die Person simuliert. Das tut mir so leid. Wir sollten achtsam miteinander sein, besonders mit Menschen ohne Diagnosen. Alle – damit meine ich Familie, Kollegen, Sie und mich – sollten zuhören, vielleicht verbirgt sich hinter unklaren Symptomen ja eine seltene Erkrankung.
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