Blickpunkt: Gendermedizin
Was versteht man unter Gendermedizin? Und warum kann Gendermedizin für die Diagnostik und Therapie einer Krankheit wichtig sein?
Diese und weitere Fragen werden in diesem Artikel behandelt.
Was versteht man unter Gendermedizin und wieso ist sie wichtig?
„Gendermedizin“ ist ein breites Feld, das vor allem auf die geschlechterspezifischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der Medizin abstellt. Gendermedizin wird u. a. als ein Bereich der Humanmedizin definiert, der sich „mit dem Faktor Geschlecht als Einflussgröße auf Erkrankungen sowie auf die medizinische Behandlung, Forschung und Prävention“ beschäftigt. Unterschieden wird dabei meist das biologische Geschlecht („Sex“) und das soziale Geschlecht („Gender“). Das biologische Geschlecht beschreibt körperliche Merkmale wie Chromosomen, Hormone, Gene und die Anatomie. Das soziale Geschlecht nimmt gesellschaftliche Konventionen und Normen sowie „klassische“ Rollenerwartungen und das soziale Umfeld in den Fokus, wobei beide sich gegenseitig beeinflussen, und so Einfluss auf Gesundheit bzw. Krankheit eines Menschen nehmen.
Am Beispiel Lungenkrebs lässt sich dies zeigen: Früher erkrankten Männer daran häufiger als Frauen. Das lag vor allem an ihrem Lebensstil, der sich oft aus dem sozialen Geschlecht ableitete. Männer rauchten häufiger als Frauen. Heute sinkt die Lungenkrebserkrankungskurve bei Männern tendenziell, wohingegen sie bei Frauen zunimmt. Ein Grund hierfür ist, dass Frauen ca. 20 Jahre später angefangen haben zu rauchen, was sich heute an den Neuerkrankungen zeigt. Unterschiede bei den Therapieerfolgen ergeben sich zugunsten der Frauen insbesondere aufgrund von sog. Treibermutationen des Tumors - also jenen genetischen Veränderungen des Tumors, die ihn im Wachstum antreiben. Sie kommen häufiger bei Frauen vor und sind der Grund, dass Frauen häufig deshalb eine bessere Therapieprognose haben als Männer.
Das biologische Geschlecht beeinflusst, wie unterschiedlich Frauen und Männer auf dieselbe Krankheit und dieselbe Therapie reagieren. Frauen sind meist nicht nur etwas kleiner und leichter als Männer, sondern auch die Organe unterscheiden sich zum Teil bis in die Zellstruktur und Enzymzusammensetzung. Ein Beispiel: Der weiblichen Leber fällt es schwerer, manches Medikament zu verstoffwechseln und auszuscheiden, das kann leicht zu einer Überdosierung führen. Männliche Zellen dagegen verfügen über ungünstigere Andockstationen für Schmerzmittel, daher brauchen Männer davon häufig mehr.
Um Unterschiede in Krankheitsbildern, der Diagnose und der Therapie erfassen zu können, braucht es also auch den Blick durch die „Genderbrille“. Davon profitieren Frauen und Männer gleichermaßen. Auch Männer haben Krankheiten, die als „klassische“ Frauenkrankheiten gelten, wie Osteoporose, Brustkrebs oder Depressionen. Die Forschung in diesem Bereich ist aber noch recht jung: Die Gründung der ersten Gendermedizin-Institute erfolgte im Jahr 2001 in New York, ein Jahr später am Karolinska-Institut in Stockholm und 2003 an der Charité in Berlin.
Zum Weiterlesen:
Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM)
Gendermedizin: Ungleichbehandlung ist besser (Barmer)
Geschlechterspezifische Krankenheiten: Lungenkrebs (Barmer)
Gendermedizin: Warum das Geschlecht bei Krankheiten eine Rolle spielt (ARD alpha)
Warum kann Gendermedizin für die Diagnostik und Therapie einer Krankheit wichtig sein?
Das Wissen um die Unterschiede zwischen Mann und Frau kann Leben retten, insbesondere bei der Diagnose von Krankheiten. Beispiel Herzinfarkt: Obwohl Männer häufiger einen Infarkt haben, sterben mehr Frauen daran. Der einfache Grund: Herz-Kreislauf-Erkrankungen galten lange als „Männersache“. Deswegen werden mit dem Herzinfarkt auch Symptome wie das Stechen in der Brust, die ausstrahlenden Schmerzen in die Arme und kalter Schweiß verbunden. Selbst Laien kennen meist die Symptome, rufen einen Notarzt und sorgen für eine schnelle Behandlung. Bei Frauen sieht das anders aus, denn ihre Symptome sind uneindeutiger und können auch durch viele andere Krankheiten hervorgerufen werden. Daraus folgt, dass Frauen statistisch erst zwei Stunden später in eine Klinik eingeliefert werden. Und dass bei einer Krankheit, bei deren Behandlung jede Minute zählt.
Neben der richtigen und rechtzeitigen Diagnose ist aber auch die zielgerichtete Therapie wichtig. Fast alle Medikamente, die heute entwickelt werden, sollen für Männer und Frauen zugelassen werden. Bei einer medikamentösen Therapie von Krankheiten verlangt der deutsche Gesetzgeber eine Erprobung der Medikamente in klinischen Studien sowohl mit Männern als auch mit Frauen. In einigen Projekten geht es jedoch um Krankheiten, die (fast) nur ein Geschlecht betreffen. So adressieren aktuell ca. 29 Forschungsprojekte Krankheiten, die ausschließlich oder fast ausschließlich bei Frauen vorkommen wie zum Beispiel Krebserkrankungen an Brust, Eierstock, Gebärmutterschleimhaut und Gebärmutterhals sowie gegen Wechseljahresbeschwerden. Dagegen betreffen deutlich weniger Projekte Krankheiten, die ausschließlich oder fast ausschließlich bei Männern auftreten. Hierzu gehören neben Prostatakrebs noch drei Erbkrankheiten, die auf Genmutationen im X-Chromosom zurückzuführen sind: die Blutungskrankheiten Hämophilie A und B und die Augenkrankheit Choroideremie.
Für die geschlechterspezifische Versorgung ist neben einer zunehmenden interdisziplinären Zusammenarbeit der relevanten Fachbereiche insbesondere das Bewusstsein für die Relevanz des Geschlechts für die medizinische Versorgung zu schärfen. Hier ist die Ausbildung des medizinischen Personals wichtig. Mit der ab dem Jahr 2025 geltenden neuen Approbationsordnung werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Lehrplänen des Medizinstudiums verankert und gestärkt.
Zum Weiterlesen:
Geschlechterspezifische Medikamente (vfa)
Das Geschlecht macht den Unterschied (AOK Baden-Württemberg)
Was erforscht die Gendermedizin in Deutschland? Und welche Rolle spielt dabei der Gender-Data-Gap?
Bei der Arzneimittelforschung in Deutschland wird mittlerweile sehr genau auf die Unterschiede der Geschlechter geachtet. Gerade in der Auswertung der Studien zur Medikamentenerprobung kann man statistische Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Proband:innen feststellen. Das gilt vor allem für die mittlere Konzentration und die Verweildauer des Wirkstoffes im Blut. Das Gute daran: Die Unterschiede sind oft nur marginal und die Medikamente sind häufig so effektiv, dass die Konzentration und die Verweildauer keine allzu große Rolle spielen. Aber es gibt auch Ausnahmen – und hier hat sich die geschlechterspezifische Betrachtung in Studien ausgezahlt. Beispielsweise müssen bestimmte Medikamente gegen Verstopfung bei Männern höher dosiert werden als bei Frauen. Bei Lipodystrophien, einer seltenen Erkrankung, die durch einen Mangel an subkutanem Fettgewebe oder eine Fehlverteilung des subkutanen Fettgewebes sowie durch daraus resultierende Stoffwechselveränderungen charakterisiert sind, wird Frauen eine höhere Dosis empfohlen. Geschlechterunterschiede in der Pharmaforschung können so bei der Therapie eine besondere Rolle spielen.
Aber auch Kliniken und ihre Institute forschen mittlerweile intensiv zum Thema Gendermedizin, so z.B. die München Klinik oder auch die Charité in Berlin. Das Institut „Gender in Medicine“ der Charité will das Thema in der Forschung und auch in der Lehre weiter voranbringen und entwickeln. Dafür macht das Institut eigene Studien, um einen „Beitrag zur Verbesserung von Gesundheit, Lebensqualität und Wohlbefinden der Gesamtbevölkerung“ zu leisten. Dabei konzentriert sich die Einrichtung auf fünf Teilbereiche:
- Im Forschungsbereich „Geschlecht und Diversität“ wird untersucht, welche Möglichkeiten es für mehr geschlechter- und diversitätssensible Arbeit in der Gesundheitsversorgung gibt
- Der Forschungsbereich Prävention fokussiert sich dabei auf das Gesundheitsverhalten bei Individuen
- Der Forschungsbereich Versorgungsforschung nimmt die psychosozialen Faktoren und präventive Maßnahmen unter die Lupe
- Der Forschungsbereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen befasst sich mit den Geschlechterunterschieden in diesem Bereich
- Der Forschungsbereich Methodenentwicklung setzt sich mit Analysemethoden auseinander
Dass es hier dringend mehr Forschung braucht, hat unter anderem der sogenannte „Gender-Data-Gap“ gezeigt. Bis in die 1990er-Jahre war der Mann „das Maß der Dinge“ und diente als Referenzrahmen für Symptome und Therapie. Diese wurden dann einfach auf die Frau übertragen, ohne auf die spezifischen Geschlechterunterschiede einzugehen. Erst seit Anfang der 2000er-Jahre gibt es ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von geschlechterspezifischer Forschung.
Zum Weiterlesen:
"Gendermedizin, ist da etwas dran?“ (Novartis)
Institute of Gender in Medicine (Charité)
Gendermedizin und Genderpflege (München Klinik)
Geschlechtsunterschiede in der Pharmaforschung (vfa)
„Frauen fehlen in medizinischen Studien“ (Ärzteblatt)