EU-Pharmapaket: Wendepunkt für die Versorgung?

Am 26. April 2023 hat die Europäische Kommission das sog. EU-Pharmapaket vorgelegt. Damit soll der Rechtsrahmen für die Pharmaindustrie grundlegend überarbeitet werden. Doch um was geht es in dem Gesetzespaket? Und welche Auswirkung hat das Pharmapaket für die pharmazeutische Industrie? Diese und noch mehr Fragen beantwortet Dr. Jasmina Kirchhoff, Projektleiterin für "Pharmastandort Deutschland" beim Institut der deutschen Wirtschaft, in ihrem Gastbeitrag für das vfa-Patientenportal.

Die geplante Neuordnung des EU-Arzneimittelrechts wird den Pharma- und Gesundheitsstandort Europa für die nächsten Jahrzehnte nachhaltig prägen. Entsprechend kritisch werden die Vorschläge bezüglich ihrer Umsetzbarkeit, Wirksamkeit und Konsistenz von den nationalen Regierungen, Krankenkassen, Industrien und Patientenvertretungen diskutiert. Die im EU-Pharmapaket verankerten Zielsetzungen sind ambitioniert: Zum einen soll die europäische Pharmaindustrie dabei unterstützt werden, Forschung und Entwicklung von Technologien voranzutreiben, die den Patientinnen und Patienten zugutekommen. Zum anderen soll der EU-weite schnelle Zugang zu erschwinglichen Arzneimitteln gewährleistet werden. Was aber vermag das EU-Pharmapaket für die Schaffung eines zeitnahen Zugangs zu innovativen Arzneimitteln für die Patientinnen und Patienten tatsächlich zu leisten?

Zwischen den europäischen Ländern sind die Unterschiede in der Geschwindigkeit des Zugangs zu innovativen Arzneimitteln nach wie vor groß. Dauert es in Deutschland 128 Tage bis ein innovatives Präparat nach seiner Zulassung durch die europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) für Patientinnen und Patienten verfügbar ist, beträgt diese Zeitspanne im europäischen Durchschnitt 517 Tage. Von den 168 Medikamenten, die zwischen 2018 und 2021 in Europa zugelassen wurden, waren Anfang des Jahres 2023 in Deutschland 147 erhältlich, im Durchschnitt der EU-Länder 76. Um diese Unterschiede im Versorgungszugang abbauen zu können, braucht es die richtigen Weichenstellungen auf europäischer Ebene.

Kernelemente sind der Abbau von bürokratischen Hürden und die Vereinfachung von Zulassungsverfahren

Einige Kernelemente des Reformvorschlags der Europäischen Kommission zielen auf den Abbau bürokratischer Hürden und der Vereinfachung von Zulassungsverfahren ab. So soll unter anderem die Entscheidung über die Genehmigung einer Marktzulassung in Zukunft in maximal 180 statt 210 Tagen getroffen werden. Kürzere und innovationsfreundliche Verfahren können helfen, dass neuartige Therapien schneller zugelassen und damit den Patientinnen und Patienten früher zur Verfügung stehen. Während diese Maßnahmen die EU-weit schnellere Versorgung durchaus stärken können, stehen andere Reformvorschläge des EU-Pharmapakets nicht nur diesem Ziel, sondern vor allem der von der Europäischen Kommission ebenfalls avisierten Stärkung des pharmazeutischen Forschungs- und Produktionsstandorts entgegen – zum Nachteil der Patientinnen und Patienten.
Ein Beispiel: Um den Versorgungszugang europaweit zu vereinheitlichen, plant die Europäische Kommission Änderungen im Unterlagenschutz. Bisher galt, dass die Studiendaten innovativer Arzneimittel acht Jahre ab dem Tag ihrer Zulassung nicht von Generika- oder Biosimilarherstellern für die Erstellung ihrer eigenen Zulassungsanträge genutzt werden dürfen. Nach Ablauf des Unterlagenschutzes greift die sogenannte Marktexklusivität für weitere zwei Jahre, welche unter bestimmten Bedingungen um ein Jahr verlängert werden kann. Im Rahmen des EU-Pharmapakets ist nun eine Verkürzung des Unterlagenschutzes von acht auf sechs Jahre geplant. Hierdurch verspricht sich die Kommission, dass schneller preisgünstigere Nachahmerpräparate auf dem europäischen Markt zur Verfügung stehen.

Gleichzeitig wird ein neuer Anreizmechanismus installiert, der es Unternehmen ermöglichen soll, die Dauer des Unterlagenschutzes zu verlängern. So erhalten Unternehmen beispielsweise zwei Jahre zusätzlichen Unterlagenschutz, wenn sie ihr Produkt innerhalb von zwei Jahren nach seiner Zulassung in allen Mitgliedsstaaten der EU in die Versorgung bringen. Hierdurch soll ein EU-weit vergleichbar schneller Marktzugang zu innovativen Therapien befördert werden. So bestechend diese Idee auch sein mag, kann dieser Anreizmechanismus aber den gegenteiligen Effekt auf die Versorgungslage mit innovativen Medikamenten haben.

Die Änderungen im Unterlagenschutz sind für Unternehmen mit zusätzlichen bürokratischen Hürden und erheblichen Unsicherheiten verbunden. Theoretisch ist eine Verlängerung der gekürzten Schutzfrist zwar möglich, praktisch ist aber das Ob und der Umfang ungewiss. Um beim gewählten Beispiel zu bleiben: Die Geschwindigkeit der Markteinführung in den nationalen Märkten Europas liegt nicht allein in den Händen der Unternehmen – der gewählte Anreizmechanismus zielt jedoch ausschließlich auf die Unternehmen ab. Pharmazeutische Unternehmen stehen 27 nationalen Gesundheitssystemen mit ihren unterschiedlichen Preissetzungs- und Erstattungsverfahren sowie individuellen Beschränkungen gegenüber und haben damit nur eingeschränkt Einfluss auf die Geschwindigkeit der einzelnen nationalen Verfahren.

Klinische Studien machen neue Therapien für Patientinnen und Patienten frühzeitig verfügbar

Unsicherheiten über die Dauer des marktexklusiven Zugangs schmälern nicht nur die Attraktivität des europäischen Absatzmarkts. Der Unterlagenschutz ist ein wichtiger Anreiz für unternehmerische Investitionen in die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel vor Ort. Auf diesen müssen sich die Unternehmen verlassen können, denn die Arzneimittelentwicklung ist ein Hochrisikogeschäft. Bis ein Medikament zugelassen werden kann, dauert es im Durchschnitt 13 Jahre und es fallen Kosten bis in den Milliardenbereich an. Zudem führt nur ein geringer Teil der begonnenen Forschungsprojekte zu einem marktfähigen Produkt. Das hohe unternehmerische Risiko nehmen Unternehmen auf sich, wenn ihnen die Rekapitalisierung der mit diesem Prozess verbundenen Aufwendungen möglich erscheint. Eine verlässlich kalkulierbare Geltungsdauer der Schutzrechte ist hierfür immanent. Ist diese nicht gegeben, steigt zum einen die Gefahr verzögerter oder gar Nicht-Verfügbarkeiten innovativer Arzneimittel – mit entsprechenden Auswirkungen auf die zukünftige Versorgung der Patientinnen und Patienten. Zum anderen drohen unternehmerische Forschung und klinische Studien vor Ort zunehmend auf den Prüfstand gestellt zu werden, für neue Forschungs- und Entwicklungsvorhaben rücken möglicherweise attraktivere Alternativen im außereuropäischen Ausland ins Auge. Klinische Studien machen aber neue Therapien für Patientinnen und Patienten frühzeitig verfügbar; Ärztinnen, Ärzte und Kliniken gewinnen durch klinische Studien wichtiges Wissen in neuen Behandlungsansätzen.

Einige Kernelemente des EU-Pharmapakets sind mit Blick auf die gewünschte Versorgungsstärkung positiv zu bewerten. Doch in der Gesamtschau kann das komplexer werdende Regelwerk mit Eingriffen in die Schutzrechte den Forschungs- und Studienstandort weiter schwächen. Für den Gesundheitsstandort Deutschland steigt die Gefahr, zukünftig auch in der Versorgung mit innovativen Arzneimitteln von Neuentwicklungen, Produktionen und Zulieferungen aus dem Ausland abhängig zu sein – für Patientinnen und Patienten, dass sie an neuen Entwicklungen in Zukunft verzögert oder gar nicht teilhaben könnten.

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