"Frauen müssen mehr berücksichtigt werden"
Was für eine Rolle spielt das Geschlecht in der Medizin? Warum haben Männer bei der gleichen Krankheit andere Symptome als Frauen? Und was ist ein "Geschlechter-Bias"? Unter anderem darüber haben wir mit Dr. med. Carina Vorisek gesprochen. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Core Facility Digital Medicine and Interoperability BIH der Charité Berlin.
Warum spielt das Geschlecht in der Medizin eine Rolle?
Dr. med. Carina Vorisek: In der Medizin spielen sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht eine Rolle: Das biologische Geschlecht bezieht sich auf physiologische Merkmale wie den Hormonhaushalt und die Expression der X- und Y-Chromosomen. Wohingegen das soziale Geschlecht eher geschlechterspezifische Lifestyle- und Verhaltensweisen beschreibt. In Bezug auf das biologische Geschlecht gibt es relevante Unterschiede darin, wie Medikamente vom Körper aufgenommen und verstoffwechselt werden (Pharmakodynamik). Hier spielen vor allem der Hormonhaushalt, das Gewicht sowie der Körperfettanteil eine Rolle. Aber auch Krankheiten und deren Symptomatik können sich zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Dies betrifft nicht nur die sogenannten Frauenkrankheiten wie Endometriose oder Menstruationsbeschwerden.
Frauen haben häufig andere Krankheiten und andere Symptome als Männer. Woran liegt das?
Dr. med. Carina Vorisek: Die Geschlechterspezifität von Krankheiten sowie Symptome ist bereits seit Längerem bekannt. Allerdings sind die Geschlechterunterschiede nicht bei allen Erkrankungen spezifisch untersucht worden, sondern es werden oft Daten von weißen Männern als Referenzstandard verwendet. Je nach Geschlecht weist der Körper jedoch unterschiedliche physiologische Gegebenheiten auf. Manche Krankheiten treten gehäuft bei Frauen auf, wie z.B. Migräne und auch beim Herzinfarkt zeigen Frauen andere Symptome als Männer. Somit ist bekannt, dass sich Krankheiten auf Frauen anders auswirken und Therapien und Diagnostik geschlechtsspezifisch sind. Oft sind diese Unterschiede jedoch nicht erforscht worden und finden auch kaum Erwähnung in medizinischen Lehrbüchern oder an medizinischen Fakultäten. Aber nicht nur physiologische Unterschiede, auch psychische und soziale Faktoren spielen eine Rolle: Lifestyle wie z.B. Ernährung können Krankheiten begünstigen und sogar zu (epi)genetischen Veränderungen führen. Auch ist bekannt, dass Männer weniger präventive Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung annehmen. Daher ist es wichtig nicht nur das biologische, sondern auch das soziale Geschlecht zu unterscheiden.
Was versteht man unter „Geschlechter-Bias“ und warum ist es wichtig, sich diesen Bias bewusst zu machen?
Dr. med. Carina Vorisek: Generell entsteht ein Bias immer dann wenn die Allgemeinbevölkerung nicht adäquat repräsentiert wird und das hat meist negative Auswirkungen auf diejenigen Minderheiten, welche nicht repräsentiert werden. Im Falle des Geschlechter-Bias in der Medizin ist es so, dass oftmals Frauen nicht repräsentiert werden, da die meisten medizinischen Studien auf männlichen Daten basieren und somit eine Geschlechterdiskriminierung entsteht. Die zuvor erwähnten Unterschiede in der Physiologie sowie die Unterrepräsentation von Frauen in klinischen Studien erklärt, warum Frauen typischerweise auch mehr unerwünschte Ereignisse nach Medikamenteneinnahme berichten als Männer. Osteoporose und Depression werden als Frauenkrankheiten angesehen, sind aber möglicherweise unterdiagnostiziert bei Männern.
Sie arbeiten am Berlin Institute of Health der Charité. Welche Bedeutung hat Gendermedizin in der Forschung?
Dr. med. Carina Vorisek: Wir arbeiten in der Core Facility für Digitale Medizin und Interoperabilität an der Implementierung von Standards in nationalen sowie internationalen Digitalisierungsprojekten im Gesundheitswesen. Hier sehen wir einen raschen Anstieg von Projekten, die immer größer werdende Mengen an medizinischen Daten nutzen wollen, z.B. für Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI). Die Algorithmen, welche für solche KI Anwendungen entwickelt werden, sind allerdings immer nur so gut, wie ihre Daten und daher ist natürlich gerade hier große Vorsicht geboten, damit wirklich alle von diesen neuen Entwicklungen profitieren. Gerade KI-Anwendungen benötigen große Datenmengen welche oft nicht einfach zugänglich sind und somit muss man immer ein genaues Auge darauf haben, welche Personen in diesen großen Datenmengen tatsächlich präsentiert werden. In der Vergangenheit gab es KI-Entwicklungen, die unter der Verwendung von Veterinär-Daten entwickelt wurden mit einem Frauenanteil von nur 6%. Da es noch keine verbindlichen Vorgaben dafür gibt wirklich faire KI-Anwendungen zu entwickeln, ist es notwendig über Geschlechter-Bias in medizinischen Daten aufzuklären und Maßnahmen anzuwenden, die Bias verhindern können.
Vor welchen Herausforderungen steht die Gendermedizin in den kommenden Jahren?
Dr. med. Carina Vorisek: Dass es in der Medizin einen Geschlechter-Bias gibt, ist wohl bekannt und unumstritten. Nur muss daran gearbeitet werden, diesen wo nur möglich zu reduzieren: Geschlechterunterschiede müssen in klinischen Studien berücksichtigt werden und generierte Daten sollten fair sein, also die Allgemeinbevölkerung präsentieren. Davon sind nun einmal die Hälfte Frauen. Bisher macht die medizinische Praxis keine geschlechterspezifischen Unterschiede in Diagnose oder Behandlung und das muss geändert werden. Dafür sollten Personal in Wissenschaft, Klinik aber auch in der Industrie sensibilisiert und geschult werden, um dem in Zukunft entgegen zu wirken. Nur so kann für alle Personen der Bevölkerung eine adäquate medizinische Versorgung gewährleistet werden.