"Impfen braucht Wissen, Zeit und Gelegenheit"

Autorin: Prof. Dr. med. Heidrun M. Thaiss, ehemalige Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BZgA, Professorin für Health Promotion TU München und Vorstandsvorsitzende des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen

Wir haben unsere Leserinnen und Leser befragt, ob sie ihre medizinischen Daten in anonymisierter Form für die medizinische Forschung zur Verfügung stellen. Die Ergebnisse der Umfrage hat Prof. Thaiss für uns eingeordnet. Sie ist Public Health-Expertin, Professorin für Health Promotion an der TU München und Vorstandsvorsitzende des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen sowie ehemalige langjährige Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BZgA.

Liebe Leserinnen und Leser,
die Coronapandemie hat uns allen wie kein Ereignis zuvor bewusst gemacht, dass wir – jeder und jede, Sie und ich - aktiv etwas für unsere Gesundheit tun können. Als präventive Maßnahmen sind neben ausreichender Bewegung, gesunder Ernährung und erholsamer Schlaf zur Stärkung unserer Immunabwehr Impfungen das wirksamste Instrument.
Nicht nur als sog. „Gamechanger“ in der Pandemie sind wir uns alle der segensreichen Bedeutung von Impfungen bewusst geworden. Wir wollen uns nicht vorstellen, wo wir heute ohne die COVID-Impfung stünden.
Aber nicht nur diese, sondern viele weitere verfügbare Impfungen sind für die Bevölkerung bedeutsam. Deshalb war es spannend zu erfahren, ob die Menschen die von der STIKO (Impfexpertinnen und Experten am Robert Koch-Institut) für Erwachsene empfohlenen „Basisimpfungen“ kennen und wie sie genutzt werden.
In der Regel als Dreifachimpfung bereits mit zwei Monaten erstmals und dann im Säuglingsalter noch zweimal als Grundimmunisierung verabreicht, schützt diese Impfung gegen Wundstarrkrampf, Diphtherie und Kinderlähmung. Sie muss für einen lebenslangen Schutz im Kindes- und im Jugendalter und danach alle zehn Jahre wiederholt werden.
Die Frage an eine repräsentative Stichprobe der Gesamtbevölkerung lautete: „Wissen Sie, wann für Sie die nächste Auffrischung der Standardimpfungen (Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten) gemäß den Empfehlungen der STIKO (Ständige Impfkommission) anfällt?“
Neben den drei Antwortmöglichkeiten: Ja, Nein oder Weiß nicht/ Keine Angabe erfolgte eine zusätzliche Abfrage nach Geschlecht, Alter, Schulabschluss und Beschäftigungsverhältnis. Interessant, wo Sie sich hier wiederfinden.

Das erste überraschende Ergebnis war, dass nur gut die Hälfte der Bevölkerung weiß, wann sie wieder gegen die Basiserkrankungen Tetanus, Diphtherie und Keuchhusten (als sog. Auffrischung) geimpft werden muss (52,3%). Die Erkrankungen sind nicht banal: Gartenarbeit (Tetanus), weltweite Mobilität (Diphtherie) und Großelternschaft (Pertussis) können Risikofaktoren für diese Erkrankungen oder als Überträger sein.
Frauen waren dabei mit fast 60% – wie bei allen weiteren Vorsorgemaßnahmen auch – informierter und aktiver als Männer. In der Tat sind es meist Frauen, die ihre Partner ermutigen, die Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen, sich gesund zu ernähren und Sport zu treiben. Daher ist auch zu vermuten, dass sie sie auch auf fällige Impfungen hinweisen.

Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen, so fällt auf, dass im Trend mit steigendem Lebensalter das Wissen um den nächsten fälligen Impfzeitpunkt zunimmt. Möglicherweise leidet man im höheren Alter an einigen Grunderkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes (Multimorbidität), sodass damit dem Schutz vor Infektionskrankheiten noch eine zusätzliche Bedeutung zukommt. Eine Ausnahme stellt die Gruppe der 30 – 39-Jährigen dar. Sie stehen meist voll im Berufs- und Familienleben und kennen mit 42% den nächsten Impftermin am seltensten. Wie wir aus weiteren Befragungen wissen, stellen Zeit- und Gelegenheitsmangel die wichtigsten Gründe dafür dar („Termin verpasst, vergessen, keine Zeit gehabt, mich darum zu kümmern“). Umso bedeutsamer ist es deshalb für Politik und alle Impfanbieter, niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten zu schaffen, wie in Apotheken oder Einkaufs- oder Bildungszentren, zumindest für einzelne Impfungen wie Grippe und COVID. Darüber hinaus sollte auch über aufsuchende Angebote nachgedacht werden. Dennoch sollte immer das Haus- oder Facharztteam primärer Ansprechpartner für Impfungen sein, denn dort ist die Krankengeschichte bekannt, eine individuelle Beratung möglich und (in Umfragen bestätigt) auch das größte Vertrauen vorhanden. Bei 9,8 Arztkontakten pro Jahr in Deutschland (OECD, 2022) sollte unbedingt auch jeder Praxisbesuch genutzt werden, um den Impfausweis auf Aktualität zu prüfen und fehlende Impfungen nachzuholen.

Eine klare Erkenntnis aus den Befragungen ergibt sich aus dem Zusammenhang zwischen Bildung und Wissen um Impfungen: Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Studium wissen mit je ca. 53% zwar leider noch zu selten, aber deutlich häufiger über ihre notwendigen Impfungen Bescheid als die (jungen) Menschen, die noch in Ausbildung oder ohne Abschluss sind. Hier kennt nur gut jede/r Dritte den nächsten fälligen Impftermin (35,8% vs. 36,9%). Dies ist ein dringender Appell zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz in Einrichtungen der frühen Bildung; als Schulfach Gesundheit/Lebenskompetenz, über Schulgesundheitsfachkräfte und über die Kompetenzrahmen der Kultusbehörden zur (digitalen) Bildung in den Bundesländern. Hier könnte auch schon früh der digitale Impfausweis mit Erinnerungsfunktion etabliert werden.

Wichtig für eine ausreichende Informiertheit ist neben der Bildung auch der Faktor Zeit. Aus der differenzierten Betrachtung des Beschäftigungsstatus der Befragten lässt sich ablesen, dass mit zunehmender Dringlichkeit (mehrere Erkrankungen bei steigendem Alter, s.o.), aber wohl auch mehr Zeit und Interesse für den eigenen Gesundheitsschutz bei steigendem Risiko (sog. Vulnerabilität) das Wissen um die Notwendigkeit von Impfungen und die persönliche Betroffenheit steigt. Mit knapp 60% führt hier die Gruppe der Menschen im Ruhestand die Informiertheitsskala deutlich an, gefolgt von Studierenden und ArbeitnehmerInnen (51,6% und 50,7%). Selbstständige folgen mit 46,2%. Am Ende liegt die Gruppe der Arbeitslosen und Nichterwerbstätigen mit 40,4%. In dieser Gruppe zeigt sich deutlich, dass vermutlich ein geringeres (Aus)Bildungsniveau mit existenziellen Sorgen den Alltag bestimmen, der dann wenig Raum lässt, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Dies kann die gesundheitliche Chancenungleichheit erklären, die dazu führt, dass am Ende die Lebenserwartung zwischen beiden Gruppen um bis zu zehn und mehr Jahre differiert. Auch ein ungenügender und lückenhafter Impfschutz kann dabei ein Faktor sein.
Als Fazit lässt sich aus diesen spannenden Ergebnissen ablesen, dass das Wissen der Bevölkerung über den eigenen Impfstatus und die Notwendigkeit einer Impfauffrischung nicht nur vom Alter und vom Geschlecht, sondern auch vom Bildungsgrad und dem Beschäftigungsverhältnis abhängt. Es braucht Zeit und die Fähigkeit, sich das notwendige Wissen über Impfungen anzueignen und umzusetzen.
Um die Erkenntnis der Bevölkerung über die Bedeutung der eigenen Gesundheit und die Notwendigkeit von Impfungen, nicht nur in der Coronakrise, sondern auch darüber hinaus, aufrecht zu erhalten, wurde 2023 das Nationale Aktionsbündnis Impfen (NABI) gegründet.
Es hat sich zum Ziel gesetzt, als unabhängige Institution die Gesundheitskompetenz der Menschen, vor allem rund ums Impfen, zu steigern.
Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben mit der Lektüre dieses Beitrags schon damit begonnen. Ihr nächster Schritt wird jetzt sicher die Kontrolle Ihres Impfpasses und – falls erforderlich – das zeitnahe Schließen Ihrer Impflücken sein!

Prof. Dr. Heidrun Thaiss