"Die Patientinnen und Patienten können sich auf die qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung verlassen“

Innovative Arzneimittel sind ein großer Fortschritt für das Gesundheitssystem und geben Patientinnen und Patienten ganz konkret Hoffnung und Perspektive. Diese Therapien verursachen aber auch Kosten. Im Doppelinterview sprechen vfa-Präsident Han Steutel und DAK-Vorstand Andreas Storm über Finanzierung, Erstattungsmodelle und die Frage, was all das für die Patientinnen und Patienten bedeutet.

Welche Bedeutung haben Arzneimittelinnovationen für die Patientinnen und Patienten?

Han Steutel: Für Patientinnen und Patienten geben sie eine konkrete Hoffnung auf eine bessere Lebenssituation oder gar eine Lebensverlängerung. Viele Krankheiten sind durch neue Entwicklungen heute besser therapierbar oder heilbar geworden. Denken Sie z. B. an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Bei vielen Krebserkrankungen können wir heute bereits von Chronifizierungen sprechen, wo die Diagnose vor einigen Jahren noch ein Todesurteil für Patientinnen und Patienten bedeutet hat. Arzneimittelinnovationen tragen allgemein mit dazu bei, dass wir heute gesünder älter werden können. Für ein modernes Gesundheitssystem ist es deshalb ganz zentral, dass dieser medizinische Fortschritt auch in die Versorgung gelangen kann – zum Wohle des Einzelnen und der Gesellschaft.
Andreas Storm. Quelle: DAK.
Andreas Storm: Die Entwicklung qualitativ hochwertiger Therapieformen ist ein Segen für die Patientinnen und Patienten. Dank des medizinischen Fortschritts können heute viele Krankheiten, die noch vor nicht allzu langer Zeit als unheilbar galten, therapiert werden. Allerdings können nach wie vor viele Leiden nicht oder nicht im gewünschten Ausmaß behandelt werden. Die Bedeutung von echten Arzneimittelinnovationen ist entsprechend groß.

Wichtig zu wissen: Innovativ heißt nicht automatisch besser. Aktuell kommt es leider oft vor, dass wir „innovativ“ und „besser“ gleichsetzen, ohne dass ein ausreichender Nachweis dafür vorliegt. Das müssen wir ändern und den tatsächlichen Nutzen innovativer Arzneimittel gegenüber den bestehenden Therapiealternativen wieder stärker in den Fokus rücken. Nur so können wir sicherstellen, dass Patientinnen und Patienten die bestmögliche Therapie erhalten.

Han Steutel. Quelle: vfa
Herr Steutel, die Unternehmen, die Sie vertreten, erforschen, entwickeln und produzieren diese Innovationen. Die Finanzierung ist ein wichtiges Thema für sie und die Beitragszahler. Das Thema Erstattungsmodelle für innovative Arzneimittel klingt zunächst einmal eher sperrig. Vielleicht fangen wir mit den Grundlagen an – dazu gehört das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Was regelt das Gesetz? Und welche Rolle spielen Innovative Arzneimittel darin?

Der Arzneimittelmarkt in Deutschland ist sehr umfangreich reguliert. Das AMNOG bewertet alle neuen Medikamente sehr ausführlich, so dass für jedes Arzneimittel klar ist, ob und ggf. wieviel es besser ist als bisherige Alternativen. Auf dieser Basis wird dann der dementsprechende Erstattungspreis zwischen dem Hersteller und den Krankenkassen verhandelt. Ich bin daher verwundert, dass die Kassen ihre selbst verhandelten Preise hinterher immer mal wieder anzweifeln. Durch das AMNOG ist vielmehr sichergestellt, dass der gemeinsam mit den Kassen verhandelte Preis eines neuen Arzneimittels nur so hoch ist, wie es für den Nutzen des Arzneimittels angemessen ist. Diese Regeln sind auch im internationalen Vergleich 10 Jahre nach der Einführung ein Novum und nahezu einmalig. Für uns ist wichtig, dass das Gesetz versucht die Balance zu halten, um den medizinischen Fortschritt zu finanzieren und zugleich Anreize für weitere Forschung zu setzen.

Herr Storm, Sie sind Vorstand der DAK-Gesundheit, einer der großen gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Sie sich die Entwicklung der Arzneimittelpreise in den letzten Jahren anschauen: Wie beurteilen Sie die Preisentwicklung und wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Die Preisentwicklung bei Arzneimitteln betrachte ich seit einigen Jahren mit Sorge. Es ist kein Geheimnis, dass die immer weiter steigenden Kosten zu einer zunehmenden Belastung für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden. Erst kürzlich veröffentlichte Daten des Deutschen Apothekerverbandes zeigen, dass die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel 2021 erneut um über zehn Prozent und damit auf einen neuen Rekordwert angestiegen sind. Mit rund 45 Milliarden Euro pro Jahr geben die Krankenkassen mittlerweile fast jeden fünften eingenommenen Euro für Arzneimittel aus. Diese Entwicklung kann so nicht ungebremst weitergehen.

Mir ist allerdings wichtig, dass wir über das Thema Arzneimittelpreise nicht losgelöst vom Nutzen für die Patientinnen und Patienten sprechen. Sehr gute neue Therapien können durchaus einen hohen Preis rechtfertigen. Wir sehen aktuell jedoch eine gefährliche Entkoppelung der Preisentwicklung vom tatsächlichen Nutzen neuer Arzneimittel für die Patientinnen und Patienten.

Besonders große Sorgen bereiten mir hier die sogenannten „Orphan Drugs“, also Arzneimittel für seltene Krankheiten. Für den AMNOG-Report 2022 der DAK-Gesundheit haben Wissenschaftler der Universität Bielefeld dargelegt, dass für Orphan Drugs bei Markteintritt in der Regel zu wenige und qualitativ unzureichende Daten über den tatsächlichen Nutzen zur Verfügung stehen. Einfach gesagt, wissen wir also nicht genau, wie gut die neuen Therapien wirklich sind. Trotzdem haben sich die Kosten für neu zugelassene Orphan Drugs seit 2011 verfünffacht und liegen im Jahr 2020 im Durchschnitt bei 540.000 Euro pro Jahr und Patient – nicht zu Unrecht wird teils von „Mondpreisen“ gesprochen. Diese Preisexplosion macht sich mittlerweile auch bei den Gesamtausgaben für Arzneimittel stark bemerkbar: Orphan Drugs machen rund 8 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben bei nur 0,2 Prozent aller Verordnungen aus.

Für die neue Bundesregierung sehe ich deshalb gerade in diesem Bereich dringenden Handlungsbedarf: Die Grundidee des AMNOG, den tatsächlichen Nutzen neuer Arzneimittel im Vergleich zu bisherigen Therapien zu ermitteln, muss wieder mehr in den Fokus rücken. Denn die begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Solidargemeinschaft der Versicherten und ihrer Arbeitgeber sowie die berechtigten Gewinninteressen der pharmazeutischen Hersteller müssen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Nur so können wir auch künftig die Finanzierung innovativer Arzneimittel sicherstellen.

Herr Steutel, teilen Sie diese Einschätzung und haben wir aus Ihrer Sicht ein Ausgabenproblem?

Ich halte nichts von Panikmache. Die alljährlichen Warnungen der Krankenkassen vor drohenden Kostenexplosionen haben sich nie bewahrheitet. Und schon mal gar nicht für die Arzneimittelausgaben. Die sind ein echter Stabilitätsanker der Gesundheitsausgaben. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben der Krankenkassen ist seit vielen Jahren stabil. Man könnte eine Wasserwage daranhalten. Die Erklärung ist einfach. Zwar kommen jedes Jahr neue, verbesserte Arzneimittel auf den Markt, doch werden diese zunächst nur bei recht wenigen Patientinnen und Patienten eingesetzt. Für das Gesamtbild ist wichtig, dass jedes Jahr auch viele seit Jahren etablierte und viel verordnete Medikamente ihren Patentschutz verlieren. Sie werden generisch und somit wesentlich günstiger. Wer sich also über Preise einzelner Medikamente aufregt, verwechselt „Einzelpreise“ mit „Gesamtausgaben“.

Gleiches gilt für die Regelungen bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen, den sog. orphan drugs. In der EU gelten Krankheiten dann als selten, wenn weniger als 5 von 10.000 EU-Bürger oder Bürgerinnen betroffen sind. Orphan Drugs bieten den Betroffenen häufig erstmals überhaupt eine Therapiemöglichkeit. Und obwohl wir in diesen Tagen die Zulassung des 200. Medikaments feiern können, gibt es noch einen erheblichen medizinischen Bedarf. Denn aktuell gibt es nur für 2 Prozent der schätzungsweise 8000 seltenen Erkrankungen zugelassene Orphan Drugs. Die kleinen Patientenzahlen bleiben nicht ohne Folgen. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir hier nicht die gleiche Evidenz wie bei anderen Therapien liefern können und diese Therapien auch in den Kosten höher sind. Doch gerade weil es so wenige Einzelfälle gibt, sind die Ausgaben hier mit ca. 0,8 Prozent der Gesamtausgaben für das deutsche Gesundheitssystem aus unserer Sicht finanzierbar. Und das ist auch gut so, denn auch diese Menschen verdienen alle Anstrengungen für eine Therapie.

Aber auch ein gutes System kann noch verbessert werden: Wenn die Patientenzahlen gering sind, ist es naturgemäß schwierig, in kurzer Zeit viele Daten in klinischen Studien zu ermitteln. Deshalb sollte in der Nutzenbewertung des AMNOG aus unserer Sicht auch reale Versorgungsdaten sog. Real World Data akzeptiert werden. Das ist derzeit nicht der Fall.

Vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr hat die DAK-Gesundheit neue Erstattungsmodelle gefordert – insbesondere bei kostenintensiven Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen. Warum brauchen wir neue Erstattungsmodelle, Herr Storm? Und was haben die Patientinnen und Patienten davon?

Wir brauchen sowohl eine Reform der Preisbildung als auch die Möglichkeit, neue Erstattungsmodelle für die vereinbarten Preise anzuwenden. Warum, möchte ich anhand von drei Punkten erläutern:

Erstens ist die aktuell extrem dynamische Preisentwicklung, wie dargestellt, insgesamt und im Besonderen bei den Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen nicht nachhaltig finanzierbar.

Zweitens sehen wir, dass die individualisierte Medizin, beispielsweise im Bereich der Gentherapien, einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Was eine große Chance für die Behandlung bisher unheilbarer Krankheiten ist, ist auch eine Herausforderung für bisherige Zulassungs- und Preisfindungsprozesse. Wir sind bisher gewohnt, dass neue Arzneimittel in umfangreichen Studien mit üblicherweise vielen hunderten Menschen erprobt werden und robuste Studienergebnisse zum Zeitpunkt der Zulassung vorliegen. Per Definition sind die Patientengruppen, die von individualisierten Einzeltherapien profitieren, sehr klein. Diese kleinen Patientengruppen machen es schwierig, robuste Studiendaten vorzulegen, die bisher jedoch die Grundlage für die Preisverhandlung zwischen Krankenkassen und Herstellern sind.

Und drittens ist unser Finanzierungssystem auf die Erstattung von Dauertherapien ausgelegt. Bisher kannten wir nur Arzneimittel, die zum Beispiel täglich oder wöchentlich eingenommen werden müssen. Gentherapien, die nur ein einziges Mal zur Anwendung kommen, sprengen die Logik der bisherigen Erstattungspraxis durch die gesetzliche Krankenversicherung. Weil die Hersteller bei der einmaligen Anwendung des Medikaments nur einmal mit der Krankenkasse abrechnen können, sind die Preise für diese Mittel enorm hoch, im Extremfall mehrere Millionen Euro. Dabei besteht die Herausforderung, dass zum Zeitpunkt der Anwendung und damit der Erstattung noch keine ausreichenden Daten zum Zusatznutzen vorliegen. Das Risiko, dass die erhofften Ergebnisse in der Versorgungspraxis nicht erzielt werden, tragen die Patientinnen und Patienten sowie die Solidargemeinschaft. Das müssen wir ändern.

Sowohl für eine Anpassung des AMNOG-Verfahrens an die Herausforderungen, die uns neue Therapieformen stellen, als auch für neue Erstattungsmodelle haben wir im AMNOG-Report 2022 detaillierte Vorschläge vorgelegt. Kurz skizziert schlagen wir vor, dass Hersteller für alle Therapieformen belastbare Daten zum Nutzen der neuen Arzneimittel vorlegen oder, falls nicht machbar, schnellstmöglich nach der Zulassung in der Versorgung erheben müssen. Der Preis richtet sich dann konsequent am tatsächlich nachweisbaren Nutzen und sollte rückwirkend festgelegt werden.

Herr Steutel, auch die forschenden Pharma-Unternehmen beschäftigen sich mit der Frage der Finanzierung gerade neuer Therapien. Welche Vorschläge haben Sie und wie blicken Sie auf den Beitrag der Industrie?

Mit den ersten Gentherapien wurde ein neues Kapitel in der Versorgung aufgeschlagen. Bei diesen Einmaltherapien sprechen im besten Fall von Heilung für Patientinnen und Patienten. Sie sind in der Entwicklung, der Versorgung und bei den Kosten sehr aufwendig. Wir sind uns deshalb bewusst, dass diese Therapien die bestehenden Finanzierungsmechanismen vor neue Herausforderungen stellen.

Gerade für diese neuen Therapien braucht es aus unserer Sicht deshalb neue Wege der Finanzierung. Unsere Antwort ist hier sehr klar. Sie lautet pay-for-performance. Also die Bezahlung abhängig vom Behandlungserfolg. Wer sein Versprechen nicht hält, zahlt zurück, so einfach. Die Firmen haben damit kein Problem, denn sie sind von ihren Produkten hundertprozentig überzeugt. Aus unserer Sicht bietet die Möglichkeit von selektivvertraglichen Lösungen einen geeigneten Rahmen für diese Verträge.

Wir erleben jedoch, dass die Kassen diese neuen Bezahlmodelle nicht vereinbaren wollen. Was auf den ersten Blick merkwürdig kling, hat seinen Grund in den Regelungstiefen des sogenannten „Risikostrukturausgleichs“, dem Geldverteilungsmechanismus zwischen den einzelnen Krankenkassen. Aber hier ließe sich mit wenigen Änderungen politisch nachsteuern, um solche Verträge praktikabel für alle Kassen zu machen. Was nicht sein kann ist, dass diese Therapien, welche die Spitze des medizinischen Fortschritts darstellen, bewertet und bepreist werden wie Bluthochdruckmittel.

Können Patientinnen und Patienten darauf vertrauen, auch künftig mit den innovativen Arzneimitteltherapien versorgt zu werden?

Andreas Storm: Ja, selbstverständlich. Die Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich insbesondere im Arzneimittelsektor als „lernendes System“ erwiesen. Die Patientinnen und Patienten können sich auch künftig auf die qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung verlassen. Unser Ziel muss es sein, dass qualitativ hochwertige Arzneimittel möglichst schnell bei den Patientinnen und Patienten ankommen und nachhaltig finanzierbar bleiben.

Han Steutel: Da nehme ich Sie beim Wort. Wir haben das gleiche Ziel. Das verlässliche System in Deutschland, das bisher den schnellsten Zugang zu innovativen Therapien in Europa ermöglicht, sollte nicht durch kurzfristige Sparziele gefährdet werden. Für 2022 erwarten wir mehr als 45 neue Medikamente in der Versorgung in Deutschland. Neben Corona-Vakzinen und -Therapeutika werden darunter auch zahlreiche Medikamente gegen andere Infektionen sowie gegen Krebs, Stoffwechselkrankheiten und weitere Leiden zu erwarten sein. Die Forschungsaktivitäten sind insgesamt immens auch bei zentralen noch unbeantworteten Herausforderungen wie Demenz und Alzheimer. Unser Ziel ist, dass dieser medizinische Fortschritt auch dort ankommen kann, wo er gebraucht wird – bei den Patientinnen und Patienten.