Arzneimittel für Kinder: Versorgung mit Defiziten
Kinder brauchen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arzneimittel. Für sehr kranke Mädchen und Jungen gibt es oftmals keine für sie zugelassenen Medikamente. Es wird deshalb auf Mittel für Erwachsene zurückgegriffen, was jedoch erhebliche Risiken birgt. Lesen Sie den Beitrag oder schauen Sie sich das Video mit Dr. Johannes an.
"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!" - In diesem Video erläutert Mediziner und Video-Blogger Dr. Johannes Wimmer, worauf bei der Forschung, Entwicklung und Verabreichung von Medikamenten für Kinder und Jugendliche insbesondere geachtet werden muss. Sie können es sich auch als MP4-Datei herunterladen.
Eltern mit kranken Kindern stehen vor vielen Fragen, auch, was die Arzneimitteltherapie betrifft. Denn viele Medikamente sind nur für Erwachsene zugelassen. Das bedeutet, dass keine ausreichenden wissenschaftlichen Daten zur Anwendung bei Minderjährigen vorliegen. Schätzungen zufolge sind mehr als 50 Prozent der Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, nicht an ihnen erprobt. Dies treffe umso mehr zu, je jünger und je kränker die Betroffenen sind, sagt Dr. Stefanie Breitenstein, Leiterin Kinderstudien beim pharmazeutischen Unternehmen Bayer. Um zu wissen, ob ein Mittel wirksam und verträglich ist und welche Dosis benötigt wird, ist eine vernünftige Datenbasis erforderlich. Diese Daten werden in der Regel an Erwachsenen klinischen Studien erhoben. Die Ergebnisse von Erwachsenen können jedoch nicht einfach auf Kinder übertragen werden, da die Präparate von jungen Patienten anders verarbeitet werden. Gerade bei kleinen Kindern funktioniert der Stoffwechsel anders, die Leber- und Nierenfunktion sind noch nicht ausgereift. „Da genügt es nicht, die Dosierung von Erwachsenen herunterzurechnen und vielleicht noch ein bisschen Erdbeeraroma dazuzugeben“, heißt es beim Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa).
Beispiel Schuppenflechte
Dr. Sandra Philipp von der Charité in Berlin„Jeder dritte Patient mit Psoriasis erkrankt bereits im Kindes- oder Jugendalter“, berichtet Dr. Sandra Philipp, Leiterin der Psoriasis-Sprechstunde der Universitätshautklinik an der Charité Berlin. Eine rechtzeitige Behandlung der Schuppenflechte könne den Langzeitverlauf günstig beeinflussen. „Die Therapie ist oft eine Herausforderung, denn für Kinder sind nur wenige Medikamente zugelassen“, sagt die Berliner Dermatologin. Dies führe dazu, dass Heranwachsende oft nur mit Salben behandelt werden. Das tägliche Eincremen störe und verstärke die mit der Erkrankung ohnehin verbundene Belastung. Eine wirksame Therapie, die nicht so häufig angewendet werden müsse, böte jungen Patienten die Möglichkeit, ihrer Krankheit im Alltag weniger Raum zu geben. Von den modernen Biologika, die dies ermöglichen, hätten bislang allerdings nur drei die erforderliche Zulassung für die Behandlung schwerer Krankheitsverläufe bei Kindern. Ärzte können ihnen zwar Medikamente unter bestimmten Umständen auch außerhalb der Zulassung verordnen, doch dieser Off-Label-Gebrauch ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Denn ältere Arzneimittel sind nur mit Erwachsenen untersucht und getestet worden. Von diesen Erfahrungen kann jedoch nicht ohne Weiteres auf die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Mittels bei Kindern geschlossen werden. Denn ihr Körper funktioniert anders. Im Verhältnis zum Körpergewicht sind die Organe größer als die von Erwachsenen, Leber und Niere sind bei der Geburt noch nicht ausgereift. Dies hat Auswirkungen auf den Stoffwechsel, die Verweildauer der Medikamente im kindlichen Körper und ihren Abbau. Das kann dazu führen, dass manche Wirkstoffe ihre Wirkung gar nicht entfalten und andere zu starke Nebenwirkungen nach sich ziehen.
Klinische Studien mit Kindern
Lange wurde es vermieden, Kindern an klinischen Studien teilnehmen zu lassen. Denn für die Forschung mit menschlichen Probanden gelten weitgehende ethische und rechtliche Vorgaben. Jedes Vorhaben setzt eine Einverständniserklärung der Teilnehmer voraus, und diese ist von Minderjährigen schwer einzuholen. Dieser Umstand und die hohe Schutzbedürftigkeit von Kindern haben dazu geführt, dass für sie nur wenige Studien durchgeführt werden. Doch inzwischen hat ein Paradigmenwechsel eingesetzt: „Weg von dem Standpunkt, dass Kinder vor klinischer Forschung geschützt werden, hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Kinder durch klinische Forschung geschützt werden müssen“, sagt Kinderärztin Breitenbach. Allerdings bereiten Studien mit Kindern auch Schwierigkeiten, die Prüfungen erfordern viel Zeit. Kinder stellen keine homogene Gruppe dar, sondern in den Studien muss zwischen Früh- und Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen unterschieden werden.
Kindgerechte Darreichungsformen
Eine entscheidende Rolle spielt eine kindgerechte Darreichungsform. Kleine Patienten können keine Tabletten schlucken, Zäpfchen sind zwar für Babys geeignet, werden von Jugendlichen dagegen häufig nicht akzeptiert. Für jüngere Kinder werden Tabletten oft zerkleinert und in Flüssigkeiten oder Lebensmittel eingerührt. Dies geht jedoch auf Kosten der Dosierung, häufig kann nicht genau bestimmt werden, welche Menge sie wirklich eingenommen haben.
EU-Fördermaßnahmen für Kinderarzneimittel
Die Europäische Union hat 2006 eine Verordnung erlassen, die die Medikamentenentwicklung für Kinder verbessern soll. Unternehmen, die ein Medikament bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zulassen wollen, müssen mit dem pädiatrischen Komitee der EMA einen Prüfplan (PIP) vereinbaren, der sie verpflichtet, die Wirkungsweise des neuen Mittels auch bei Kindern zu untersuchen. Erst danach kann der neuen Arznei eine Zulassung für Erwachsene erteilt werden. In der Folge ist die Anzahl an Studien mit Minderjährigen deutlich gestiegen. Kinder werden allerdings in der Regel erst dann in die Studien eingebunden, wenn der neue Wirkstoff bereits an Erwachsenen getestet ist. Für die nächsten Jahre werden viele Zulassungen für Kinder erwartet, allein in Deutschland laufen laut vfa gegenwärtig 38 von der Industrie finanzierte Studien mit Kindern und Jugendlichen, die eine große Bandbreite an Indikationen abdeckten.
Defizite bei bereits patentfreien Medikamenten
Während es bei neuen Medikamenten eine Frage der Zeit ist, wann diese auch für kleine Patienten zugelassen werden, ist die Situation bei Arzneimitteln, die bereits seit langem für Erwachsene patentfrei zur Verfügung stehen, deutlich problematischer. Seit 2007 gibt es die Möglichkeit der PUMA-Zulassungen (Paediatric Use Marketing Authorisation), einer Zulassung auf EU-Ebene von patentfreien Wirkstoffen speziell für Kinder und Jugendliche. Für Pharma-Unternehmen ist es jedoch wenig attraktiv, patentfreie Arzneimittel für Kinder weiterzuentwickeln, sie in klinischen Studien zu testen und den Zulassungsprozess zu durchlaufen. Probleme ergeben sich vor allem daraus, dass die neuen Produkte in Deutschland der frühen Nutzenbewertung unterliegen und dass die Krankenkassen die Mehrkosten für ein solches Produkt nicht bezahlen wollen. Experten halten es für notwendig, Anreize für die Industrie zu setzen, damit diese auch bei Wirkstoffen mit abgelaufenem Patentschutz Indikationen für Kinder entwickelt.
Keine Zulassung – also Off-Label
Die Folge ist, dass Kinderärzte ihren Patienten die Medikamente „Off-Label“ verschreiben, also ohne eine spezielle Zulassung für die kleinen Patienten. Für diesen Gebrauch müssen Eltern ihr Einverständnis geben, da die Anwendung ein gewisses Risiko birgt und mit vermehrten unerwünschten Wirkungen verbunden sein kann. Für viele Eltern ist es eine schwierige Entscheidung, ihrem Kind ein Medikament zu geben, das nicht ausreichend an Kindern getestet ist und über das keine ausreichenden Daten vorliegen. Allerdings ist diese Situation keine Seltenheit: Nach der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ haben 40 Prozent aller Kinder bereits einmal ein Medikament außerhalb seines Zulassungsbereichs verabreicht bekommen. Und bei sehr kranken und jungen Kindern würden bis zu 70 Prozent der Wirkstoffe außerhalb der Zulassung angewendet. Eine weitere Erschwernis für Familien, die mit einem kranken Kind bereits stark belastet sind.
Die Position der Hersteller
Studien mit Kindern sind in der Regel mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Besonders schwierig gestaltet sich die Suche nach Teilnehmern: Die Patientengruppen sind klein, was die Organisation von Studien erschwert. Viele Eltern wollen nicht, dass ihr Kind zum „Versuchskaninchen“ wird und haben Angst, dass die Studie ihr Kind zu stark belastet. Unbefriedigend für die Pharma-Hersteller ist außerdem die Erlössituation: Viele ältere Medikamente sind mittlerweile niedrigpreisig und zudem in das Festbetragssystem eingeordnet. Das bedeutet, dass die Gesetzliche Krankenversicherung sie nur bis zu einer festen Preishöhe erstattet (siehe Infokasten), die auch dann nicht angehoben wird, wenn das betreffende Medikament eine Zulassungserweiterung erhält – zum Beispiel für Kinder. Sogar eine eigene pädiatrische Darreichungsform des Medikaments (zum Beispiel Tropfen oder Minitabletten) wird der gleichen Festbetragsgruppe zugeordnet (und folglich nicht höher erstattet) als das Erwachsenenmedikament. Für die Hersteller von PUMA-Medikamenten bedeutet das, dass sie trotz der Forschungskosten keine höheren Preise erzielen als zuvor. Und wesentlich mehr Abnehmer gewinnen sie auch nicht dazu, da nur wenige Kinder an der betreffenden Krankheit leiden. Dadurch lohnt sich die Investition für die Hersteller nicht.
Festbeträge
Festbeträge sind Höchstbeträge für die Erstattung von bestimmten Arzneimitteln durch die Krankenkassen. Das bedeutet: Die Krankenkassen zahlen nicht automatisch den tatsächlichen Preis eines Arzneimittels, sondern nur den dafür geltenden Festbetrag: Festbeträge werden entweder für wirkstoffgleiche (z.B. für alle Clopidogrel-haltigen Medikamente) oder für Gruppen vergleichbarer Arzneimittel (z.B. für alle Statine) festgesetzt. Kritisch sieht die Industrie außerdem, dass zugelassene Kinderarzneimittel durch wirkstoffgleiche Präparate ohne pädiatrische Zulassung ausgetauscht werden können. Dies geschieht oftmals aufgrund der sozialrechtlichen Vorgaben, zum Beispiel durch Rabatt-Verträge der Krankenkassen mit bestimmten Herstellern. SieDie Firmen fordern eine Ausnahmeregelung für Kinderarzneimittel durch deren Aufnahme in die sogenannte Substitutionsausschlussliste, die festlegt, welche Präparate nicht in der Apotheke ausgetauscht werden dürfen.
Weiterführende Links:
- Die Informationsbroschüre des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) zu Kindern in klinischen Studien ist hier abrufbar: https://www.vfa.de/de/patienten
- Der vfa hat eine Liste mit Medikamenten zusammengestellt, die in den letzten Jahren eine Zulassung für Minderjährige oder eine Erweiterung ihres zugelassenen Altersbereichs erhalten haben: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung
- Das pädiatrische Komitee der EMA ist unter folgendem Link zu finden: http://www.ema.europa.eu
- Das Register für klinische Studien in Europa ist unter folgender Adresse zu finden: https://www.clinicaltrialsregister.eu/
- Unterstützung für Familien mit kranken Kindern bietet das Kindernetzwerk (http://www.kindernetzwerk.de/de/). Dort sind auch zwei Broschüren zum Thema zu finden: „Sind Arzneimittel kindgerecht“ (http://www.kindernetzwerk.de/index.php?module=forms&op=download_file&file=/navigationblocks/691/691_775_pdf-download-der-kompletten-handreichung:-hier-klicken.pdf&filename=pdf-download-der-kompletten-handreichung:-hier-klicken.pdf) sowie „Neue Medikamente für Kinder“ (http://www.kindernetzwerk.de/index.php?module=forms&op=download_file&file=/navigationblocks/706/706_850_pdf-download-der-kompletten-handreichung-dateigroesse-5,5-mb.pdf&filename=pdf-download-der-kompletten-handreichung-dateigroesse-5,5-mb.pdf)